Ich in Relation
Wenn wir im Zeichnen uns selbst zum Thema nehmen, können wir verschiedene Zugänge wählen. Einen Zugang haben wir schon versucht, über das Porträt. Heute möchte ich euch vorschlagen, es über den Kontext zu versuchen. Der Kontext, der uns umgibt, der unser Leben ausmacht; das, was wir lieben, was wir gerne tun, worauf wir uns freuen, was wir uns sehnlich wünschen. Dieser Kontext, das bedeutet uns selbst zu fragen, in welchen Zusammenhängen wir leben. In seiner Relativitätstheorie würde Einstein sofort eine Formel für unsere unterschiedlichen Verhältnisse zueinander finden. Wir werden aber nicht die Formeln bemühen, sondern unsere Verhältnisse zu anderen Menschen, Dingen und Situationen und diese bildnerisch ausloten.
Alles steht in Relation zueinander. Wenn ihr allein in einem Zimmer seid, dann füllt ihr diesen Raum mit eurem Bewusstsein, mit euren Tätigkeiten aus. Wenn jedoch eine zweite Person in den Raum tritt, ändert sich sofort alles. Das Zimmer ist wie eine kleine Schachtel, in der alles miteinander in Beziehung steht. Wenn wir uns die Welt als große Schachtel vorstellen, haben wir einen großen Raum, den wir beanspruchen können, und dennoch sind wir umgeben von Dingen, mit denen wir in einem bestimmten Verhältnis stehen und agieren.
Sei es die Natur, sei es die Familie, seien es Freunde, seien es die Interessen, der Beruf, die unausgesprochenen Dinge, die unerledigten Dinge. Es gibt sehr viel, das wir um uns haben und das uns beeinflusst. Natürlich gehört dazu auch die Kunst. Wir stehen in einem bestimmten Verhältnis zur Kunst und im besten Fall sind wir selbst die Kunst und tragen in uns dieses ästhetische Bewusstsein, die Welt wahrzunehmen und sie zu gestalten.
Das, womit wir uns bildnerisch beschäftigen, ist ein Teil von uns. Genauso wie es falsch ist, zu sagen, die Natur ist um uns, weil wir selbst Natur sind. Wir selbst sind Natur und sind Teil dieser Natur. Genauso ist es im Gefüge zu anderen Menschen oder Ereignissen, dass wir immer auch Teil des Geschehens sind. Und um das zum Ausdruck zu bringen, gibt es viele Möglichkeiten.
Eine Möglichkeit haben wir bereits versucht, und zwar uns ganz genau anzuschauen, als Porträt. Aber wir können das Porträt auch ganz abstrakt gestalten. Wenn ihr gerne beim Porträt bleiben möchtet, nehmt nur ein paar Linien aus dem Gesicht, vielleicht sogar nur eine, um eine Zeichnung zu gestalten. Das ist eine Möglichkeit, diese Abstraktion zu verfolgen, die Abstraktion im äußersten Sinne, nach der wir suchen. So, dass es keinen Zusammenhang mehr zwischen der Linie und dem, woher sie stammt, gibt, aber eine neue Realität erzeugt wird. Ihr seid frei.
Eine andere Möglichkeit ist, euch zu überlegen, was ihr liebt, zum Beispiel das Wasser, die Berge, die Blumen, was auch immer, und dann ganz abstrakte Zeichen zu finden, die dafür stehen. Wie diese Zeichen dann gezeichnet sind, dort spielt sich die Emotion ab und dort könnt ihr jenseits der Worte, jenseits der Erzählung, Ausdruck verleihen. Diese Möglichkeiten stehen uns offen. Gleichzeitig sind wir im 21. Jahrhundert in einer Position, in der wir stufenlos von höchster Abstraktion bis zu äußerster Realität navigieren können. Ihr könnt euer Bild also zum Beispiel sehr abstrakt anlegen und dann ein realistisches Detail hineinzeichnen. Da seid ihr ebenso frei.
Vielmehr interessieren uns die ständigen Grundfragen im Zeichnen: Die Vibration der Linie, die Verteilung der Elemente im Bild, die Bildkanten und das Licht. In diesem Impuls habe ich das Wort „Relation“ eingeführt, also alles steht im Verhältnis zueinander. Das ist wichtig für die Verteilung, denn die Elemente des Bildes gehen visuell in Spannung zueinander.
Die Bildkanten haben wir schon besprochen und dass wir keine Teile abschneiden, sondern alles im Bild lassen. Und wir können das Licht einbeziehen, sobald wir nur den Bleistift nehmen. Das Licht ist eine wesentliche Angelegenheit. Wie entsteht also das Licht? Kontraste zu schaffen ist eine Möglichkeit: Dunkle Linien auf weißem Papier. Aber ihr könnt auch ein Echo machen oder den Kontrast ausklingen lassen, indem ihr mehrere Striche bündelt und sie zarter oder weniger häufig werden lässt und schon kommt das Licht in eure Zeichnung.
Welches Licht das ist, ob der Kontrast weich oder hart ist, das ergibt sich dann im Zeichnen. Diese Momente bedenkt ihr: die Qualität der Linie, die Komposition, die Bildkanten und das Licht.
Der erste Schritt für die heutige Übung ist, zuerst einmal in euch zu gehen und nachzudenken, was euch ausmacht. Welche Beziehungen und Verhältnisse gibt es in eurem Leben? Welche Dinge schwingen noch aus der Kindheit, aus der Jugend mit, die ihr wiederentdeckt? An gewisse Dinge haben wir ständig eine Erinnerung als Emotion in uns, etwas an das wir anknüpfen.
Das ist manchmal sehr brauchbar. Und wenn ihr euch diese Dinge bewusst gemacht habt, ist noch viel stärker die Frage: Was liebt ihr davon? Was liebt ihr? Dieser Frage, was ihr gerne tut, was ihr liebt, was euch naheliegt, was in euch ein warmes Gefühl, ein weiches Gefühl erzeugt, geht ihr nach.
Im weitesten Sinne ist es ein mütterliches Gefühl, wovon die Herren nicht ausgeschlossen sind, sondern ganz explizit sind die Qualitäten des Mütterlichen den Männern gleichermaßen vorbehalten: die Weichheit, das Liebevolle, das Verzeihende – das, was Müttern zugeschrieben wird, was nicht unbedingt stimmen muss. Dennoch ist dieses Mütterliche auch ein Teil unseres Lebens, den wir erfahren dürfen, wenn vielleicht nicht von der eigenen Mutter, dann doch von Personen, die uns nahestehen, oder möglicherweise in Begegnungen.
All diese Qualitäten bringt ihr mit ins Spiel, in eure eigene Relativitätstheorie der Entwicklung eures Bildes. Das kann sehr abstrakt sein. Ihr dürft jede Farbe verwenden. Dann möchte ich noch etwas zur Qualität der Linie sagen: Wenn ihr ein großes Format habt, werdet ihr nicht die feinsten Linien auf diesem Format machen. Ihr werdet vibrierende Linien, aber mit einem größeren, etwas kräftigeren Zeichengerät erzeugen.
Wenn ihr aber ein kleines Format habt, werdet ihr die zartesten Linien herauszukitzeln versuchen. Experimentiert mit diesen Arten von Qualitäten der Linien, entweder mit einem sehr fein gespitzten Bleistift oder mit einem viel dickeren Bleistift, mit einem Druckbleistift, der eine breite Mine hat, mit Ölkreide oder Kohle oder auch mit einem Pinsel. Alles ist legitim. Wählt, wenn ihr eine Farbe wählt, eine, die eurer Stimmung entspricht, aus. Nicht, weil sie gerade noch aus einem anderen Malvorgang übrig ist. Es ist wichtig, euch klarzumachen, welche Stimmung eure Farbe repräsentiert und welche ihr in diesem Moment braucht.
Das, was euch selbst ausmacht, all die Beziehungen, all die Verflechtungen, all die Verstrickungen, die Begegnungen, unter Umständen auch das Allein-Sein-Wollen, das Still-Sein-Wollen, all das, was ihr über euch selbst herausfindet, setzt ihr mit euren Linien, mit Punkten, mit Strichen, mit Flächen in das Bild. Versucht, genau dort hinzukommen, wo die innere Entsprechung für das ist, was euch bewegt, diese Zeichnung zu machen.
Ich wünsche euch eine sehr schöne und kreative Zeit in der liebevollen Beschäftigung mit euch selbst!