Wie finde ich ins Zeichnen hinein?
Absichtsloses Kritzeln, Qualität der Linie
Erst einmal durch die Gestaltung eures Arbeitsplatzes. Es braucht nicht viel. Es braucht einen Tisch, der in der Zeit des Zeichnens dem Zeichnen vorbehalten ist. Also räumt alles, was sonst noch auf dem Tisch ist, zur Seite. Bereitet euch eine Unterlage und Papier vor, legt eure Zeichenmaterialien, Bleistifte von unterschiedlichen Härtegraden, Radiergummi, Spitzer und vielleicht auch eine Küchenrolle hin.
Der Zeichenplatz muss für euch stimmen. Vom Licht her. Die Sonne sollte nicht direkt aufs ZeIchenblatt scheinen. Ihr solltet mit eurem Körper keinen Schatten auf das Blatt werfen. Der Stuhl, auf dem ihr sitzt, sollte so sein, dass ihr gut sitzen könnt. Der Platz muss ein Platz sein, den ihr mögt. Der für euch in dieser Zeit auch Arbeitsplatz ist. Manche haben ein Atelier zuhause. Diejenigen, die sich erst einen solchen Platz schaffen müssen, bereiten sich zum Zeichnen einen vorhandenen Tisch als Zeichentisch für die Zeit, in der sie zeichnen. Mit der Zeit werdet ihr dann schon ein kleines Ateliergefühl in euren eigenen Räumen haben, wenn ihr euch den Platz gut und sorgsam vorbereitet.
Auch die Vorbereitung der Zeichenblätter ist wichtig: Legt euch mehrere Zeichenblätter zur Seite und ölt ein paar davon ein. Dieses Einölen kann mit einer Ölfarbe sein, die mit Malmittel verdünnt ist, nur mit Malmittel oder mit einem Nähmaschinenöl, das ihr zu Hause habt. Von Terpentin rate ich eher ab, weil es Dämpfe hat, die nicht unbedingt gesund sind – oder ihr habt „Terpin“ – ein geruchloses Malmittel – es wäre die ideale Lösung. Außer ihr arbeitet am Balkon oder Terrasse. Auf jeden Fall schaut, dass ihr ein paar Blätter vorpräpariert. Vorsichtig, wenn es ein dünnes Papier ist, dass es durchs Wischen nicht knickt.
Dann bereitet ihr euch eine Musik vor. Eine Musik, von der ihr sagt, dass sie jetzt zu eurem Zeichenbeginn genau die Richtige ist. Die euch und eurer Stimmung entspricht. Es ist egal, ob das eine klassische oder zeitgenössische Musik ist, ob Pop- oder Rockmusik, ob das eine Volksmusik ist oder Jazz oder Tango oder was immer ihr liebt. Diese Musik könnt ihr euch mal vorbereiten, überlegen, was ihr mögt.
Bevor das Ganze losgeht, macht ihr ein paar Übungen im Stehen. Und zwar dehnt ihr euch, streckt euch, ihr atmet ganz tief ein und aus. Mehrere Male. Wenn ihr euch dehnt, streckt und beugt, dann so, dass ihr es genießen könnt, nicht so, dass ihr euch verreißt oder übertreibt. Sondern so, dass es euch lockert und in eine gute physische Position bringt. Und jetzt setzt ihr euch hin, aber ihr habt noch keinen Stift in der Hand. Ihr schließt die Augen, atmet ganz bewusst durch den Körper. Ganz bewusst. Keine Gedanken werden festgehalten. Ihr schaut nur nach, welche da sind. Die dürfen kommen und wieder gehen. Dann kehrt ihr wieder bewusst in eure Atmung zurück. Fühlt, wie ihr dasitzt. Beginnend mit den Füßen am Boden, dann tastet ihr mit eurer Aufmerksamkeit den Körper ab. Ihr spürt die Füße am Boden aufsitzen, dass sie nicht überkreuzt sind und sie im rechten Winkel zum Stuhl sind. Ihr tastet die Unterschenkel bis zu den Knien und die Oberschenkel ab. Vor allem das Gesäß sollt ihr spüren. Nehmt eure Wirbelsäule wahr, eure Schultern, die Oberarme, bis hinaus in die Hände. Dann mit der Aufmerksamkeit hinauf in den Nacken und den Kopf gleiten. Bis zur Spitze des Kopfes, nach vorne zur Stirn. Nehmt bewusst eure Augen wahr. Die Schläfen, die Nase, den Mund, das Innere der Mundhöhle, das Kinn, den Hals, den Brustkorb, den Bauchraum. Atmet durch euren ganzen Körper durch. Sehr bewusst. Ihr konzentriert euch nur auf das, was ihr im Moment in euch und eurem Körper fühlt. Ihr richtet euch gut ein.
Jetzt schaltet ihr euch die Musik ein. Die Augen könnt ihr wieder schließen und mit geschlossenen Augen nehmt ihr euren Stift und setzt ihn auf eurem vorbereiteten Papier an. Und folgt ausschließlich dem, was euch die Musik erzählt. Welche Inspiration sie euch gibt.
Kritzelt, mit höchster Aufmerksamkeit auf die Bleistiftspitze – sanft aufgedrückt, stark aufgedrückt, ob es kurze Striche oder Punkte sind, lange Linien, kurze Linien, gekrümmte Linien, gerade Linien – das ist entscheidet ihr im Augenblick in der absoluten Aufmerksamkeit. Schaut, dass ihr nicht mechanisch werdet, sondern der Eingebung der Musik folgt. Manchmal sind es eher die Melodien, die in der Musik eine Rolle spielen. Dann achtet ihr darauf, welche Instrumente ihr hört. Ihr werdet bemerken, da gibt es andere Instrumente, die immer wieder übernehmen. Ihr merkt den Rhythmus, den Wechsel des Rhythmus. Laut und leise. Die Stimmung, die sich über die Musik auf euch überträgt. Und so arbeitet ihr auf eurem Blatt ganz in dieser Einheit mit der Musik. Mit dem Bewusstsein auf die Zeichnung, auf die Bleistiftsspitze und eure Hand, die da führt. Zeichnen könnt ihr diese Arbeit sowohl mit der rechten als auch mit der linken Hand. Ein guter Versuch. Wenn ihr das Gefühl habt, jetzt könnte die Zeichnung fertig sein, erst dann öffnet ihr die Augen. Und damit ist das erste Experiment abgeschlossen.
Ihr könnt ein neues Blatt nehmen. Ihr könnt auch ein trockenes Blatt nehmen, um herauszufinden, wie unterschiedlich diese Linie, die ihr mit dem Bleistift in dem Moment setzt, auf dem geölten oder dem ungeölten Blatt ist. Einfach herauszufinden, was die Hand tun muss, um gute Linien zu kreieren. Während ihr mit dem Bleistift arbeitet, kann sich der Bleistift auch drehen. Und damit spitzt sich dieser während des Zeichnens und Arbeitens zu. Aber bitte zeichnet keine Formen. Keine Kreise, Spiralen oder was auch immer. Es geht um das Kritzeln, das Frei-Sein, das Intuitiv-Sein. Das ganz auf den Augenblick eingeht und das nichts anderes verfolgt als die Qualität dieser Linien und Zeichen, die gerade im Entstehen sind.
Wenn ihr das Gefühl habt, das Musikstück gibt noch viel mehr her als ihr auf einem Zeichenblatt festhalten könnt, arbeitet diese Musik auf verschiedenen Blättern durch. Wenn ihr das Gefühl habt, ja, jetzt habe ich alles von dieser Musik ausgereizt, aber Lust auf etwas Neues, dann natürlich nehmt ihr euch das nächste vor! Ihr habt keine Grenzen. Versucht wirklich, diese Linien zu forcieren. Und wenn ihr müde seid, müsst ihr aufhören und Pause machen.
Auf das Zeichenblatt kommt eine Notiz, welche Musik das war und welcher Tag. Alle Ziffern und Buchstaben der Beschriftung sind Teil des Bildgeschehens. Und sind sehr bewusst gesetzt. Das könnt ihr auf einem anderen Blatt üben. Prinzipiell gilt während des Zeichnens für alle eure Gedanken, Ideen, Wörter oder Sätze, die euch durch den Kopf gehen folgendes: Schreibt sie auf einem Blatt, das neben euch liegt, sofort auf. Sofort festhalten, diese Gedanken sind kostbar.
Ich wünsche euch gutes Gelingen!