Zwei Flächen in spannungsvoller Beziehung

Kritzeln, Qualität der Linie, Komposition von zwei Flächen

Mit der ersten Übung seid ihr ins Zeichnen hineingekommen. Es ist euch gelungen, den Willen loszulassen. Ganz in die Intuition hineinzugehen. Ich möchte an diese vorangegangene Übung anschließen, so dass ihr noch mehr in das Absichtslose hineinkommt, aber mit ein bisschen Konzept.

Und zwar: legt auf einem Blatt Papier zwei Rechtecke oder Quadrate an, gleich groß und parallel nebeneinander. Nicht zu klein. Dann kritzelt ihr in das jeweilige Feld hinein. Gerne wieder mit Musik, aber das Ausschlaggebende ist, dass ihr die Linien, die ihr nach der letzten Übung auf euren Blättern hattet, noch mal anschaut. Welche sind besonders schön gelungen? Klar und fein schwingend? Es gibt immer ein paar, die noch schöner sind als der Rest. Und diese ganz besonders gelungenen Linien, auf die baut ihr weiter auf. So, dass die Linie noch feiner und noch feiner wird.

Ihr kritzelt in eines dieser beiden Felder. Bewusst. Sehenden Auges. Ganz bei der Spitze des Bleistifts bleibend. Es kritzelt sich immer ein bisschen über die Grenze des Feldes hinaus. Diese Linien schwingen von selbst über die Begrenzungslinien hinaus.

Dann kommt ihr zum zweiten Feld. Da entsteht durch das Bekritzeln der beiden Felder eine neue Situation. Nämlich zwischen diesen Feldern, bleibt etwas frei. Wieviel frei bleibt, hängt von eurem Kritzeln ab. Das heißt, ihr habt nicht nur das Kritzeln im Auge, sondern auch die Kontur des geometrischen Feldes. Überall geht etwas raus – das bedeutet, es entsteht viel Gefühl an den Rändern eurer Felder und es entsteht ein Zwischenraum zwischen den beiden geometrischen Formen, die durch das Kritzeln definiert werden.

Aber das Kritzeln ist natürlich ein kunstvolles Kritzeln. Wir sprechen hier von der Kunst der Zeichnung. Die Kunst der Zeichnung ist immer dort zu finden, nämlich in der Kunst der Linie, der Vibration der Linie. Dort spielt sich die Emotion der Zeichnung ab. Ganz und gar in der Linie. Das heißt, ihr seid also diesmal bewusst sehenden Auges. Ihr könnt das Blatt wieder ölen oder nicht, wie es euch anmutet. Ihr könnt mit der rechten oder linken Hand zeichnen. Ihr könnt das rechte Feld mit der rechten Hand kritzeln und das linke Feld mit der linken.

Und eure Aufmerksamkeit ist ganz bei der Bleistiftspitze. Seid bewusst, wie ihr den Bleistift aufdrückt. Dann beobachtet ihr. Wie ihr seht, ist es eine einfache Übung, aber mit sehr komplexen Vorgängen. Ihr beobachtet: ist meine Richtung des Kritzelns eher eine, die von oben nach unten geht oder von unten nach oben? Oder die wild in alle Richtungen geht oder die eher kreisend ist oder schräg oder wellig? Wie ist mein Kritzeln? Wie fühle ich mich, wo ist das größte Wohlgefühl? Ohne automatisch zu werden. Ohne wie eine Maschine zu werden.

Immer mit höchstem Bewusstsein. Das ist ausschlaggebend! Was kann ich tun, um mein Bewusstsein zu schärfen? Es ist der Zeichenvorgang selbst, bei dem ich mich ganz bewusst auf die Spitze des Bleistiftes konzentriere. Das ist eine anstrengende Übung und eine sehr herausfordernde Übung. Jetzt üben wir das noch im freien Fluss des Zeichnens. Später wird es noch mehr in eine zielgerichtete Übung gehen.

Aber das Ziel ist jetzt, Spannung zu erzeugen. Eine Spannung zwischen den beiden Feldern! So als ob da ein elektrischer Funke überspringt. Und ganz viel Licht da drinnen ist. Der Funke ist im Überspringen, so viel Spannung erzeugt sich zwischen den beiden Feldern.
Das ist eine wunderbare Aufgabe. Wenn sie euch zu komplex erscheint, dann beginnt ihr mit einem Feld. Also ein Blatt nehmen, ein Feld mit dem Lineal definieren und dort hinein kritzeln. So wie bei der letzten Übung, durchaus auch mit geschlossenen Augen. Sich einzufühlen in die nicht sichtbare Linie, nur in die innere Linie der Begrenzung und versuchen dort hineinzukritzeln, mit so viel Licht wie möglich. Und zu schauen was passiert. Wie orientiere ich mich? Welches Raumgefühl entwickle ich in diesem Feld, in welches ich nun hineinzeichne? Und dann im weiteren Schritt zwei Rechtecke oder Quadrate, gleich groß nebeneinander, parallel mit Bleistift und Lineal vorzeichnen. Danach könnt ihr die Augen wieder schließen. Aber ich hätte gerne, dass ihr die Augen öffnet bei mindestens einem Blatt, um zu sehen, wie ihr diese Spannung zwischen den beiden Feldern erzeugt.

Dieser Abstand kann größer oder kleiner sein. Probiert es aus. Während des Arbeitens fühlt ihr, wie sich diese beiden Felder annähern. Und natürlich ist das Bewusstsein nicht nur zwischen den beiden Feldern, sondern diese Kontur, die zwischen den beiden Feldern entsteht, muss auch für alle anderen Seiten funktionieren. Also, das ist eine ziemliche Herausforderung, so einfach diese Übung auch erscheint.

Bevor ihr euch hinsetzt, ist wiederum mit großer Aufmerksamkeit zu beachten, wie ihr euren Arbeitsplatz vorfindet. Richtet euren Arbeitsplatz liebevoll ein. Ihr reinigt, räumt weg, wischt den Tisch ab, legt eure Unterlage hin und legt das Blatt drauf. Richtet eure Zeichenutensilien her. Ihr schaut, dass der Bleistift gespitzt ist. Die Musik wird vorbereitet, die euch für heute wichtig ist. Schreibt dazu welche, damit ihr es später noch wisst. Und dann bereitet ihr euch selbst vor. Vergesst niemals, dass es euch selbst gut geht. Das Zeichnen ist ein feines Instrument, über das wir verfügen, diese feine Energie durchfließt unsere Hand. Diese ästhetische Energie, das ist eine ganz besondere Kraft des Gestaltens, die sich in einem feinen, sensiblen Bereich abspielt. Deswegen ist es sehr wichtig, dass ihr mit euch selbst gut im Einklang seid.
Ich habe euch bei der letzten Übung schon eine Möglichkeit gezeigt, wie das geht. Ihr könnt vorher auch einen Spaziergang in der Natur machen. Wo ihr euch selbst beim Gehen spürt. Wie ihr geht. Wie jeder Fuß abrollt. Von der Ferse bis zur Spitze. Das könnt ihr auch im geschlossenen Raum machen. Dass ihr ein bisschen auf und ab geht, den Blick nach innen senkt und ganz nach innen wahrnehmt, wie ihr geht. Wie eure Schritte und euer Atem gehen. Das könnt ihr ein paar Mal machen. Ihr könnt euch strecken. Tief durchatmen. Dass die Lungenspitzen auch noch durchlüftet werden. Sich selbst spüren und auch die eigene Körperkontur, die eigene Begrenzung, das was eure eigene Form ausmacht. Bewegt die Schultern, so dass sie richtig sitzen. So, dass der Kopf sich im richtigen Verhältnis zur Wirbelsäule befindet. Dass ihr eine schöne aufrechte Haltung entwickelt. Durch den ganzen Körper bewusst durchatmen.

Erst wenn der Impuls da ist, nehmt ihr den Bleistift, schärft eure Konzentration auf die Spitze des Bleistiftes. Setzt mit der Hand auf und dann beginnt das absichtslose, aber ganz aufmerksame Kritzeln in euren vorbereiteten rechteckigen Feldern.

Ich wünsche euch gutes Gelingen!