Erwartung

Wir haben, wenn wir zeichnen oder an ein Bild herangehen, das wir zeichnerisch gestalten, immer die Frage untergelegt: Wie werden wir das angehen, wie soll das gehen? Diese Frage „Wie?“ bringt uns zu Qualitäten. Zu Qualitäten, die wir schon kennengelernt haben. Zum Teil – und das ist die wichtigste Qualität – ist es die Linie. Das Wesen der Zeichnung ist die Linie. Welche Qualität diese Linie beinhaltet, danach richtet sich auch das Wesen des Auszudrückenden, des Gesagten im Bild.

Allein die Linie, wie ich mit ihr umgehe. Die Linie, die auch zu einer Fläche werden kann, wenn ich viele Linien zusammenlege oder übereinanderlege. Oder viele Punkte. Oder Strichelemente. So entsteht dann etwas, das in die Fläche geht, aber aus Linien besteht. Aus kurzen Strichen, aus längeren Strichen und so weiter. Also, das Wesen der Zeichnung ist die Linie.

Wie ich diese Linie gestalte, darin findet sich der Ausdruck meiner Zeichnung wieder. Das ist das Grundgerüst für jede Zeichnung. Für jedes Betrachten einer Zeichnung. Damit haben wir den Grundstein für eine gelungene Zeichnung gelegt. Und dennoch stehen wir immer wieder neu vor der Frage: „In welche Stimmung bringen wir unsere Zeichnung?“ Unbewusst ist diese Frage immer da.

Und spätestens, wenn die Zeichnung fertig ist, fragen wir uns das. „Was drückt es aus?“ – „Ah, das ist überraschend. An das habe ich gar nicht gedacht, aber es ist zu sehen.“ Genau dieses Unsagbare ist die große Herausforderung. Diese Stimmung oder Emotion zum Ausdruck zu bringen, etwas zum Klingen zu bringen, wofür wir nicht einmal ein Wort haben. Aber vielleicht eine Form? Und dann müssen wir manchmal sagen: „Nein, wir haben für gewisse Dinge auch keine Form.“

In diesem Sinne wenden wir uns in diesem Impuls einem Begriff zu. Und zwar dem Begriff: in Erwartung sein. Etwas erwarten, das ist ein Thema, das uns im Winter, im Advent, besonders bewegt, aber auch die Menschheit überhaupt bewegt. Es ist eine große Herausforderung, sich dem zeichnerisch anzunähern. Etwas in Erwartung zu zeichnen. Denn wie sieht denn dieses Etwas aus? Ist es rund, ist es eckig, ist es gerade, ist es irgendwie? Welche Form hat die Erwartung? Die Antwort ist: Es ist egal, welche Form ihr wählt.

Jede Form kann in Erwartung sein. Es ist eine Stimmung, die jenseits dessen, was man zeigt, zum Ausdruck kommt. Und das ist eine unglaubliche Schwierigkeit. Aber zugleich eine leichte Aufgabe. Ihr alle kennt das Gefühl, in Erwartung zu sein. Im Advent, wo wir das Weihnachtsfest erwarten.

Die Ankunft Christi, für die, die christlich glauben. Aber wir kennen viele andere Erwartungen. Wir sind in Erwartung eines schönen Ereignisses, bei dem wir nicht genau wissen, wie es wird, aber wir erwarten uns etwas Schönes. Oder wir erwarten uns etwas Neues. Manchmal befürchten wir, weil wir etwas erwarten, das unangenehm ist. Das kann auch mit Erwartung zu tun haben, aber es ist eine negative Emotion, eine Befürchtung. Erwartung hat vielmehr etwas Positives, etwas, auf das wir uns freuen können. Etwas, das man noch nicht sehen kann.

Ich schlage euch zwei Lösungen vor, die sehr einfach zu gestalten sind und von denen ich hoffe, dass ihr eine davon mögt. Vielleicht mögt ihr beide. Stellt euch vor, ihr seid in einem dunklen Raum. Es ist kein Licht eingeschaltet. Es ist Nacht. Ihr hört draußen ein Geräusch, leise Schritte. Plötzlich seht ihr, dass von der Tür durch die Ritze ein Licht kommt. Und die Schritte kommen näher und langsam und leise öffnet sich die Tür. Ihr habt keine Ahnung, wer da draußen ist. Aber, es kommt Licht herein.
Das ist ein unglaublicher Moment der Erwartung. Wer könnte das sein? Ihr habt die Schritte nicht erkannt. Ihr wisst nicht, wer das ist. Ihr wisst nicht, wer kommen könnte, ihr wart nicht in der Erwartung. Oder vielleicht wisst ihr, wer es ist, weil ihr in Erwartung einer bestimmten Person wart. Ihr freut euch schon auf sie. Aber ihr seht sie noch nicht. Ihr seht nur das Licht durch die leicht geöffnete Tür kommen. Also, ein dunkler Raum, eine Tür, die sich einen kleinen Spalt weit geöffnet hat, und es fällt Licht herein. Das ist die erste Aufgabe.

Die zweite Aufgabe ist ein Tisch, ein Gabentisch. Ein Tisch, der noch keine Gaben hat, aber bald haben wird. Ihr habt also einen Tisch in Erwartung. Der Tisch ist sehr einfach. Es ist nichts im Raum. Gar nichts, nur der Tisch. Auf dem Tisch selbst ist auch nichts, er erwartet nur etwas. Ihr gestaltet mit euren Linien und Strichen einen Tisch in Erwartung.

Besinnt euch, was Erwartung in euch ist. Wie fühlt sich das an? Wie fühlt sich Erwartung in euch selbst an? Ihr seid aufgeregt. Ihr seid in einer gehobenen Stimmung. Vielleicht klingt etwas schon ganz hoch in euch, wie eine freudige Melodie, die sich anbahnt. Etwas vibriert. Ihr merkt, dass euer Herz anders schlägt. Dass sich das Kribbeln unter der Haut anders anfühlt. Ihr habt Freude in euch.

Etwas, das jubelt und jauchzt, aber eben noch nicht sehen kann, was es erwartet. Ihr kennt dieses Erwarten. Vielleicht schon früh, als ihr Kinder wart, wenn etwas in Erwartung war, auf das ihr euch irrsinnig gefreut hat. Es ist gut, wenn ihr euch diese freudige Erwartung vergegenwärtigt, wenn ihr zu dieser Aufgabe geht. Was sie bedeutet, wie sie sich anfühlt.

Dann versteht ihr, dass die Übersetzung dieses Erwartens ins Visuelle etwas mit Licht zu tun hat. Von irgendwoher kommt eine Lichtquelle. Eben wie die Tür, die sich gerade öffnet. Aber auch beim Tisch, der sich etwas erwartet, spielt das Licht eine Rolle. Denn der Tisch ist so gestaltet, dass er selbst den ganzen Raum zum Leuchten bringt, ohne, dass ihr in diesem Bildraum etwas tut.

Er ist so stark in seinem Ausdruck, durch die vielen Striche und Linien und vor allem durch die Kontur, dass er zu leuchten scheint. Bei der Tür ist es leichter, da kann das Licht hereinstreuen. Da kann es sich von zart bis ganz kräftig entwickeln. In einen dunklen Raum fällt ein bisschen Licht durch die geöffnete Tür. Aber der Tisch, der ist schon im Raum. Er ist aber genauso in Erwartung und da geht das Licht von ihm selbst aus. Ihr habt also zwei unterschiedliche Lichtsituationen für das, was ihr übersetzt als Erwartung bearbeitet.

Nun ist es manchmal so, dass man eine bestimmte Empfindung ins Visuelle übersetzen möchte, aber es plötzlich ganz anders aussieht. Die Atmosphäre ist vollkommen anders als gewollt. Plötzlich ist es einsam oder brutal oder aggressiv oder lächerlich. All das kann euch unterkommen.

Das kann auch passieren, wenn ihr an dem konkreten Thema Erwartung seid. Dann müsst ihr fein nachjustieren, bis der Erwartungsmoment ganz klar ist. In euch selbst und in dem, was ihr gestaltet. Wenn ihr aber Gefallen findet, wenn dieser Tisch so wunderbar einsam ist, dann kann die Einsamkeit ja auch etwas beinhalten: dass man hofft, dass etwas kommt. Eine Veränderung, ein Mensch, irgendetwas, das sich tut, dass man nicht mehr allein ist. Wodurch sich Freude hin zu etwas entwickelt. Freude, in Erwartung sein, heißt, das Gemüt bewegt sich zu etwas hin.

Man geht innerlich schon auf das zu, was kommt, obwohl man es noch nicht sieht. Das ist eine sehr persönliche Arbeit. Aber geht mit diesem freudigen Erwarten, das euch ganz tief erfüllen möge, neu in euch um. Lasst es spüren, lasst es sich aufbauen. Alles ist in Erwartung von etwas Größerem und man kann es nicht im Sinne eines tatsächlichen Gegenstandes zeigen. Es ist die Liebe. Die Liebe, die wir untereinander schenken. Das ist rein im geistig-seelischen Bereich, den wir über Gegenstände zum Ausdruck bringen. Vielleicht versteht ihr nun besser, wenn ich euch sage: Jemand kommt zur Tür herein, den ihr freudig erwartet. Oder da steht ein Tisch, der in Erwartung der Gaben ist. Und diese Gaben sind die Liebe. Ich wünsche euch einen sehr schönen zeichnerischen Arbeitstag!