Abstraktion – Denken und Verstehen
Mit dem Thema Natur und Abstraktion gibt es ein weites Feld zu beackern, das abgesehen vom Studium der Natur und der daraus abzuleitenden Abstraktionsleistung sehr stark das Metaphysische berührt. Wenn wir von Abstraktion sprechen, haben wir eine gewisse Vielfalt an Möglichkeiten, Abstraktion zu definieren. Das macht bis heute Probleme. Denn, was ist eigentlich Abstraktion? Wenn wir zum Wörterbuch greifen, sehen wir: „Abstraktion, lateinisch abstractus, abgezogen. Oder abstrahere, abziehen, entfernen, trennen.“ Da haben wir noch keine Vorstellung, was das meint.
Dennoch sind diese Begriffe ziemlich treffend, weil wir bei Abstraktion ständig auch von Reduktion sprechen. Wenn wir etwa sagen, wir lassen so viel weg wie nur möglich, um den größtmöglichen Ausdruck zu erreichen. Im Abstraktionsvorgang lassen wir also Dinge weg, um zu einer Allgemeingültigkeit zu kommen. Auch die Sprache ist Abstraktion. Wenn wir zum Beispiel das Wort „Baum“ verwenden, ist das schon eine Abstraktion. Denn was ist damit gemeint? Der „Baum“ kann jeder Baum sein, es ist so allgemein gehalten, dass alle Bäume dieser Spezies in diesem Wort Platz haben. Diese Abstraktionsleistung ist vom menschlichen Gehirn erst mit zwölf bis vierzehn Jahren möglich. Davor ist das kindliche Gehirn nicht so stark zur Abstraktion im Denken fähig, obwohl Kinder sehr schöne abstrakte Zeichnungen machen können.
Das liegt daran, dass das Bild vor der Sprache liegt. Das Bild kommt in der Gehirnentwicklung vor der Sprachentwicklung. Das ist eine interessante Angelegenheit, weil damit die bildende Kunst eine Form des Ausdrucks ist, die jenseits von Sprache liegt. Deswegen müssen wir auch um die Unmittelbarkeit in einem Bild ringen, das gänzlich auf die Erzählung verzichtet. Damit wir die Sprache nicht mehr brauchen. Ich betone hier ausdrücklich, dass damit nicht die Illustration gemeint ist. Die Illustration lebt von der Erzählung, davon, dass es literarisch wird, dass sich die Gedankengänge des Vorganges innerhalb des Dargestellten auch sprachlich übersetzen lassen.
In einem abstrakten Bild können wir nicht mehr so einfach auf Worte zurückgreifen. Wir sind viel stärker mit der Wahrnehmung unserer eigenen Fähigkeiten beschäftigt und dem, was wir in unserem Gefühl damit verbinden. Kandinsky hat gemeint, dass wir mit den Augen fühlend sehen müssen. Natürlich brauchen wir gewisse Informationen dazu und das ist die Kunstgeschichte. Damit sind wir bei den großen Leistungen zu Beginn des 20. Jahrhunderts in der bildenden Kunst angelangt. Hilma af Klint war die erste Künstlerin, die das erste abstrakte Bild gemalt hat. Früher wurde diese Leistung Wassily Kandinsky zugesprochen, aber heute wissen wir, dass sein erstes abstraktes Bild, das später auf 1910 vordatiert wurde, tatsächlich 1913 gemalt wurde. In Wahrheit war Hilma af Klint 1907 die erste mit ihrem abstrakten Bild Die zehn Größten, Nr. 2, Kindheit, Gruppe I und heute ist sie dafür anerkannt.
Was hat das mit der praktischen Tätigkeit des Zeichnens zu tun? Ihr habt geübt, zunächst genau auf die Natur zu schauen, indem ihr die Linien einer Buchenrinde studiert und euch nur auf einzelne Linien konzentriert habt, die durch das Weglassen des Gesamtkontextes auf eurem Zeichenblatt abstrakt geworden sind. Die nächsten Schritte waren, auch die Geometrie miteinzubeziehen, die grundlegenden elementaren Ordnungen, die ein Bild haben kann.
Ihr habt den Prozess also so weit abstrahiert, dass ihr keine Details mehr habt, sondern nur noch horizontale, vertikale, diagonale und runde Formen oder Linien, die den Begriff eines Bildes verallgemeinern, dass es in die absolute Abstraktion hineinführt. Dieser Vorgang scheint ein einfacher zu sein und dennoch ist er komplex. Die Abstraktion ist in der Malerei und in der Zeichnung der zeitgenössischen Kunst in der absoluten Begrifflichkeit zu sehen, wenn die vollkommene Abwesenheit eines konkreten Bezuges zu einem Ding oder einer erkennbaren Form besteht.
Dennoch gibt es dabei unterschiedliche Strömungen in den Gestaltungsprinzipien selbst. Das ist zum Beispiel die geometrische Abstraktion, auf die wir uns in diesem Impuls kurzzeitig fokussieren werden, um sie und die Möglichkeiten daraus tief zu verstehen. Aber es gibt auch, wie die Gebärdensprache des Künstlers, z.B. das Action Painting, wo die Ausbrüche sehr gestisch und emotional erfolgen. Oder die Phasen des Informel, des Tachismus und so weiter, die in der Kunstgeschichte einen Namen bekommen haben.
In der darstellenden Kunst geht die Abstraktion so weit, dass die ursprünglichen Merkmale von, zum Beispiel, einem Gespräch oder einer Handlung von den Betrachterinnen und Betrachtern nur dann verstanden werden, wenn sie das Wesentliche darin erkennen. Das heißt, selbst wenn der Schauspieler auf eine tatsächliche verbale Ausdrucksform verzichtet, muss er das Wesentliche erkennen. Auf jeden Fall erfordern alle Ausdrucksformen, alle Strömungen in der abstrakten Kunst Wahrnehmungs- und Interpretationsfähigkeit. Diese theoretischen Grundlagen hat auch Wassily Kandinsky in seinem Buch „Über das Geistige in der Kunst“ geliefert.
Beginnt mit einem Punkt, um in einer Analyse festzustellen, wie sich der Punkt auf dem Blatt auswirkt. Wie groß muss der Punkt sein, damit er richtig sitzt und eine Spannung erzeugt. Es ist nur ein Punkt, also eine absolute Reduktion von Möglichkeiten.
Ein Punkt und dann mehrere Punkte am Blatt können weiterentwickelt werden. Die visuelle Wirkung von Punkten kann sich in Formen wandeln oder in Linien. Probiert es aus. Es können sich neue Formen oder auch Blüten entwickeln, es können sich aus den Linien Raster entwickeln, vitale oder geometrische Formen.
Begebt euch in die Forschung hinein, in diese wunderbare Vergessenheit von Zeit, wo ihr keinen Zeitdruck verspürt und euch nur der Erforschung des Punktes hingebt. Diese Erforschung ist so kostbar, dass ihr dafür jede Zeit der Welt habt. Ihr schaut nicht mehr auf die Uhr, wie lange ihr dafür braucht. Ich hoffe, dass euch dieses Spiel mit den Punkten, das sehr einfach erscheint und sehr komplex ist, mit Freude und tief durchdacht zum Experiment dient.
Geht einfach und schrittweise vor, dass ihr wirklich die Wirkung von so etwas Kleinem wie einem Punkt ganz tief versteht. Und ihr werdet merken, dass ihr eine absolute Freude entwickelt. Ihr versteht tief, was die Natur in der Natur tut, wenn wir nur einen Punkt als Natur erleben, als Natur in sich selbst. Und wenn ihr unbedingt etwas ganz Realistisches braucht, wie ein Element aus der Natur, dann könnt ihr das auch integrieren. Diese Freiheit müsst ihr euch nehmen. Denkt in erster Linie an die Qualität der Linie. Wenn ihr das begriffen habt, dann wisst ihr auch schon, dass auch schon ein Punkt eine Qualität hat. Er kann ganz hart sein, er kann sich ausdehnen, und dabei eine Form annehmen, die nicht mehr ganz rund ist. Und wir dies trotzdem als Punkt erleben. Ihr könnt diese Punkte regelmäßig über das ganze Blatt verteilen, ihr könnt sie streuen und ihr könnte sie beobachten und wahrnehmen. Setzt euch bewusste zur Zeichnung hin, atmet tief ein, nehmt euch selbst wahr, nehmt euch selbst in diesem Augenblick wahr. Keine Vergangenheit, keine zukünftigen Sorgen oder Pläne, einfach nur den Augenblick. Und mit diesem Augenblick gestaltet ihr Punkt für Punkt, Moment für Moment.
Ich wünsche euch viel Freude und schöne Ergebnisse!