Das Quadrat
In den letzten Impulsen haben wir ausführlich über den Punkt und damit auch über die runde Form, nachgedacht, zeichnerisch nachgedacht. In dieser Übung gehen wir einen Schritt weiter, indem wir überlegen, was in einem Kreis Platz hat. Definitiv steckt in einem Kreis ein Quadrat. Es lassen sich die vier äußersten Pole innerhalb des Kreises mit gleich langen Linien verbinden und dadurch entsteht ein Quadrat. Ihr kennt diese Bilder von Leonarda da Vinci, wo er den vitruvianischen Menschen in einen Kreis zeichnet und im Kreis ein Quadrat bildet. Bei diesem vitruvianischen Menschen ist der Mittelpunkt des Kreises genau dort, wo der Nabel ist. Hingegen bilden den Mittelpunkt des Quadrates in diesen Zeichnungen des vitruvianischen Menschen die Geschlechtsorgane. In der übersetzten Bedeutung meint das, dass das Quadrat erdgebunden ist, weil unmittelbar das Zentrum die Zeugung ist.
Deswegen ist das Quadrat ein materielles Symbol, das heißt, es bildet die Erfahrung zur Materie, zum Erdgewordenen. Bereits in den prähistorischen Funden lässt sich diese Bedeutung des Quadrats ablesen. Bei der Magna Mater, der großen Göttin, ist im Bauchbereich ein aufgestelltes Quadrat zu sehen, durch das eben der Ursprung der Materie symbolisiert ist. Genauso ist das im Chinesischen der Fall, wo die runde Kompassscheibe durch ein Quadrat gebildet wird, das für die Erde steht und der Kreis steht für den Himmel.
Im christlichen Kontext sieht man ebenfalls das aufgestellte Quadrat als Symbol für das Leiden Jesu. Über Hauseingängen oder auch in Kirchen ist manchmal ein aufgestelltes Quadrat mit der Spitze nach unten und dahinter der gekreuzigte Jesus dargestellt. In dieser Darstellung ist die Symbolik des Erdgewordenen noch einmal überhöht.
Aber gehen wir zurück in die weltliche, geometrische Sprache. Was zeichnet ein Quadrat aus? Das Quadrat hat auf jeden Fall vier gleich lange Seiten. Teilt man das Quadrat entlang der Diagonale, ergeben sich zwei gleichschenkelige Dreiecke. Und vom Mittelpunkt im Quadrat könnt ihr einen Kreis darum zeichnen. Diese Einteilungen sind in einem Quadrat möglich. Wenn ihr den Zirkel an einem Eckpunkt des Quadrats ansetzt und als Radius die Seitenlänge des Quadrats nehmt, könnt ihr einen großen Kreis ziehen. Mit einem zweiten Kreis auf der anderen Seite könnt iihr diesen Kreis wiederum teilen und damit eine Blattform erzeugen.
Das könnt ihr ausprobieren und viele geometrische Muster ableiten. Es lässt sich also aus einem Kreis ein Quadrat ableiten und genauso lässt sich das Quadrat weiterentwickeln. Davon lassen sich der Würfel, die Raute, das Parallelogramm, das Drachenviereck und auch das Rechteck ableiten.
Auch mit einem Sternbild ist das Quadrat verbunden, und zwar mit dem Pegasus. Wenn man das Sternbild des Pegasus am Herbsthimmel sieht, bilden die vier Hauptsterne annähernd ein Quadrat. Der Pegasus gehört zu den achtundvierzig Sternbildern der antiken Astronomie. Es ist ein mythologisches Tier, das geflügelte Pferd, das der todbringenden Medusa entsprungen ist, nachdem Perseus Medusa das Haupt abgeschlagen hat. Der Pegasus ist dann zum Olymp geflohen und trägt seither die Blitze des Zeus.
Auch in der Kunstgeschichte haben wir mit dem Quadrat ein großes weites Feld zu beackern. Da ist zum einen Wassily Kandinsky, der das Quadrat mit der Farbe Blau verbindet, weil für ihn das Quadrat Ruhe ausstrahlt. Es ist also etwas Harmonisches, Erdgebundenes, Beruhigendes und somit hat er dem die Farbe Blau zugeteilt.
Ganz besonders verwoben ist das Quadrat mit der frühen russischen Avantgarde, repräsentiert durch Kasimir Malewitsch. Malewitsch hat die Abstraktion speziell im schwarzen Quadrat gesehen, das 1915 entstanden ist und mit dem er alles über Bord geworfen hat. Er wurde beschimpft, er wurde geschmäht, seine Kollegen waren entsetzt, die Kunstkritiker waren entsetzt, und er war glücklich: „Hab ich’s nicht allen gezeigt? Ich habe nichts gemacht, was vorher war, und nichts gemacht, was jetzt ist, und ich habe nichts gemacht, was man erkennen könnte. Ich habe nichts gemacht, was man hinein phantasieren könnte. Oder sich ausdenken könnte, was es sein könnte. Ist das nicht phantastisch?“ schreibt Kasimir Malewitsch.
Malewitsch hat also alle Assoziationen, alle Deutungen radikal aus dem schwarzen Quadrat herausgenommen. Später kam das rote Quadrat, das für die Revolution stand, und das weiße Quadrat auf weißem Grund für die totale Erleuchtung und Erkenntnis. Diesen Stil und diese Entwicklung nannte Malewitsch dann den Suprematismus. Der Suprematismus ist eine Stilrichtung der Moderne, die eine Erhöhung oder das Höchste bedeutet. Ein wenig besteht die Verwandtschaft zum Futurismus und zum Konstruktivismus.
Der Suprematismus hat auch sehr viel zur Entwicklung des Bauhauses beigetragen. Wichtig ist aber, dass Malwitsch in seinem schwarzen Quadrat alle Assoziationen und jeden Bezug aus der Natur vollkommen abgeschnitten hat. Für unser Thema Natur und Abstraktion müssen wir natürlich auf die Meister schauen, die zu Beginn des 20. Jahrhunderts zu diesen Abstraktionen beigetragen und vollkommene Reduktion bedeutet haben. Aber hier sehen wir, dass der Suprematismus mit dem schwarzen Quadrat etwas ganz anderes meint. Nämlich nicht die Bedeutung und die Beziehung zur Natur, sondern die Auslöschung alles Bezüglichen zum Lebendigen.
Und jetzt stehen wir im 21. Jahrhundert und stellen fest, dass diese radikale Ansicht des Malewitsch bis heute unerreicht ist und maßgeblich für alle Strömungen war, die sich im weiteren Verlauf, vor allem im Formalismus in den 70er, 80er Jahren bis hin zu den 90er Jahren des 20. Jhdts., entwickelt haben. Jedoch können wir heute stufenlos zwischen völliger Abstraktion und dem höchsten Realismus hin und her navigieren. Malewitsch hat die Abstraktion und das Nichts vorweggenommen hat – wie wir später im Minimalismus sehen können.
Ich lade euch für diesen Impuls ein, in dieser Freiheit des 21. Jahrhunderts mit dem Quadrat zu spielen, auf dieser Basis aller Entwicklungen der Kunstgeschichte und dessen, was euch selbst ausmacht. Versucht dieses Quadrat zu unterteilen, zu formen, zu gestalten, zu verschieben, zu dehnen, zu verkleinern, zu vergrößern, die Perspektiven auszuloten, was immer euch dazu einfällt. Ihr könnt eine ganze Serie über die Quadrate machen, aber zumindest versucht ihr ein ganz stilles Quadrat.
Dieses Quadrat hat einen bestimmten Platz, der mit dem Zeichenblatt korrespondiert. Natürlich könnt ihr auch vitale Linien verwenden, die ihr aus der Natur nehmt. Die Sonnenblume ist zum Beispiel eine annähernd runde Form, die Knopfblume, den Wiesenknopf, die Margerite, das Gänseblümchen. Es gibt viele dieser runden Formen und viele kleine Blütchen, aus denen ihr dieses Quadrat ableiten und damit spielen könnt, wenn ihr genau hinschaut. Ihr wisst, es kommt darauf an, dass ihr gut bei euch bleibt, gut in euch hineinatmet, euch gut vorbereitet und bei euch selbst seid. Dann beginnt ihr ganz einfach mit der Form des Quadrates zu spielen, das ihr aus dem Kreis ableitet. So könnt ihr einen Anschluss finden vom Punkt hin zum Quadrat.
Ich wünsche euch viele gute Ideen und viel Spaß beim Zeichnen. Denkt an die Vibration der Linie!