Zum Wasser finden

Für diesen Impuls schlage ich eine Vorübung zum Thema Wasser vor, um die beiden Schwierigkeiten der Abstraktion und der Totalität des Bildes des vorherigen Impulses weiter zu vertiefen. Und zwar: Ihr nehmt ein Zeichenblatt in A3. Mit eurem Lineal zieht ihr ein geometrisches Feld, das kann quadratisch oder rechteckig sein. Dann zieht ihr mit der freien Hand von Rand zu Rand ganz gerade eine Linie mit dem Bleistift. So gerade wie möglich.

Das Bewusstsein ist nur bei dem Punkt ganz vorne am Stift. Da, wo er aufdrückt. Die Linie ist sehr sensibel. Und mit der freien Hand ist der Strich natürlich nicht so wie mit dem Lineal. Die Linie vibriert. Sie bewegt sich leicht. Sie ist auch nicht überall gleich hell oder dunkel. Aber ihr versucht die Linie so ebenmäßig und gleichförmig wie möglich zu ziehen. Ganz präzise.

Und ganz eng, vielleicht einen Millimeter oder einen halben voneinander entfernt, folgt die nächste Linie. Von links nach rechts. Von oben bis unten das Feld. Und die nächste. Dazwischen den Bleistift spitzen, die Hand ausschütteln. Nicht aufgeben. Das erfordert eine hohe Konzentration, obwohl es eine einfache Übung ist.
Aber ich rate euch, diese einfache Übung sehr ernst zu nehmen und wertzuschätzen, weil sie euch zur Ruhe bringt. Weil sie euch dem Motiv Wasser näherbringt. Letztendlich wird das Gefühl sein, ihr schaut auf eine Wasseroberfläche. Ohne mit Farbe zu grundieren, sondern nur durch den Bleistift. Diese einfache Übung ist essenziell und ich lade euch ein, sie wirklich konzentriert zu versuchen.

Für diejenigen, die fortgeschritten sind und so viel Zeit haben, noch mehr zu machen, ist das nur das erste Blatt. Auf dem zweiten Blatt darf die Linie dann, wenn sie gezogen wird, eine Bewegung machen. Sie beginnt ganz gerade und hat eine Länge von ca. vier Zentimeter.

Dann macht der Bleistift einen kleinen Sprung. Das heißt, ihr zieht die Linie nicht durch, sondern der Stift stoppt und setzt leicht versetzt mit einer kleinen Distanz wieder an. Dort zieht er die Linie für drei bis vier Zentimeter gerade weiter, bevor ihr die Linie wieder zurückversetzt. Dann wieder gerade weiter.

So entsteht eine kleine Bewegung innerhalb der geraden Linien. Dieses System, die Linie einmal etwas drüber, dann unterbrechen, dann einmal drunter, mit minimalem Abstand, so breit wie die Bleistiftlinie, nicht mehr aber nicht durchziehen, sondern immer einen Stopp machen und eine Spur weiter nach oben oder unten setzen, und dann wieder gleich weiter unten wie vorher, dann gleich weiter oben wie vorher… und so durch wie eine Linie mit leicht versetzten Absätzen durchgeht.
Das zieht ihr durch bis hinunter und schaut, was passiert. Ich lade euch ein, sehr einfach zu bleiben. Damit ihr möglichst von Grund auf versteht, wie einfach Zeichnung ist. Aber wie anspruchsvoll es ist und wie viel Konzentration es erfordert, das durchzuhalten. Die Qualität der Linie, die Gerade, der Abstand, der Druck der Hand und diese kleinen Unterschiede, die die Hand erzeugt, werden schließlich zu sehr schönen Ergebnissen führen.

Wie immer beginnt ihr sehr behutsam. Ihr streckt euch. Ihr dehnt euch. Ihr atmet gut durch. Ihr bereitet euren Platz vor. Ihr schließt die Augen. Und wenn der Impuls fürs Zeichnen da ist, wenn ihr gut sitzt, wenn ihr gut durchgeatmet habt, dann zieht ihr mit sehendem Auge den Rand und mit sehendem Auge die Linie – natürlich mit der freien Hand. Und ihr konzentriert euch nur auf den Augenblick, in dem ihr mit dem Bleistift das Blatt berührt und von Moment zum Moment, von Augenblick zu Augenblick eure Linie gestaltet.

Ich wünsche euch sehr viel Muße, Konzentration und Freude bei dieser Aufgabe!