Sommer – Der Sprung ins Wasser

Der Sommer lädt uns zu folgender Übung ein. Es gibt wundervolle Musikthemen zum Sommer. Einerseits aus der klassischen Musik, die ganz eindeutig das Thema oder den Titel Sommer haben. Wie der Sommernachtstraum von Mendelssohn oder die Vier Jahreszeiten von Vivaldi. Andererseits gibt es auch Chansons, wie „La Mer“ zum Beispiel. Es gibt unendlich viele andere Möglichkeiten, ob es nun Volksmusik oder Pop oder Rap oder Jazz ist. Es kann auch ein unerwartetes Lied sein, das eure Sommermelodie ist. Die Melodie, als ihr jung wart, vielleicht aus eurem ersten Urlaub am See oder als ihr euch mit Freunden getroffen habt, und ihr verbindet diese wunderbare Zeit mit einer bestimmten Musik.

Erinnert euch, was war das? Diese Erinnerung und dieses Gefühl sind etwas sehr Ausgiebiges. Also besorgt euch diese Musik, aus dem Internet, aus den alten Schallplatten oder CDs. Diese Musik muss euch ganz besonders am Herzen liegen. Und mit eurem Sommergefühl zu tun haben.

Und dann schließt ihr die Augen und hört die Musik. Ihr habt also ein Blatt Papier und einen gespitzten Bleistift vorbereitet, schließt die Augen und lasst euch im Hören auf die Musik ein. Und dann spürt ihr euch, wie ihr dort sitzt. Ihr schwebt in der Musik. Ihr nehmt euch im Hören der Musik wahr. Eure Gefühle, eure Gedanken, euren Körper, so wie es sich gerade anfühlt. Nehmt euch selbst mit der Musik des Sommers wahr.

Irgendwann kommt der Impuls und ihr folgt dem Impuls und beginnt zu zeichnen. Mit dem Bewusstsein, dass die Spitze des Bleistiftes der wesentlichste Punkt ist, auf den ihr euch konzentriert. Darauf, wie der Bleistift auf das Papier aufdrückt. Die Musik lenkt und leitet euch. Fließt die Linie? Oder schwingt sie? Gibt die Musik Rhythmen vor? Wechseln die Instrumente? Ist es laut oder leise? Ist es dramatisch, weil sich gerade ein Gewitter abspielt, oder sind Vogelstimmen zu hören, die der Komponist da eingebaut hat, oder ist es das Geräusch von Wasser? Alle diese Phänomene werden sich in eurer Linie widerspiegeln. Ganz anders, als ihr erwartet. Aber ganz bestimmt.
Erst, wenn ihr das Gefühl habt, ihr seid fertig, öffnet ihr die Augen. Dann schaut, was passiert ist. Es kann sein, dass der Bleistift zu hart oder zu weich war, dass ihr zu heftig im Strich wart oder zu zart. Dann beginnt ihr ein zweites Blatt und startet einen neuen Versuch. Wieder derselbe Vorgang, ihr schließt die Augen und zeichnet. Lasst euch von der Musik leiten.

Ihr könnt euch dieser Zeichen-Aufgabe mehrere Tage hingeben. Damit ihr keine Langeweile verspürt, gibt es noch eine zweite Aufgabe, nachdem ihr mit der Musik Eingang in die Zeichenstimmung, in diese Konzentration gefunden habt. Ich möchte, dass ihr euch vorstellt, ihr macht einen Sprung ins kühle Nass. Ihr springt ins Wasser. Dieser Moment des Loslassens, dieser kurze Schwebezustand und dann das Eintauchen ins Wasser. Dieses Wasser, dass ihr durch euren Körper verdrängt, das spritzt hoch. Es macht Fontänen. Es macht Linien in der Luft. Dieses Gefühl von spritzendem Wasser, das Gefühl, dass ihr da hineinspringt, das zeichnet ihr. Nachdem die Musik abgeschlossen ist, springt ihr zeichnerisch ins Wasser.

Und als dritte Ebene könnt ihr versuchen, das Brett, von dem ihr losspringt, in eure Zeichnung aufzunehmen. Wir sehen das schön bei David Hockney im Bild „The Bigger Splash“ da gab es ein Brett, ein rechteckiges Formelement. Euer rechteckiges Formelement weist in irgendeine Richtung ins Blatt, entweder diagonal oder grade oder kurz und kleiner, das ist eure Wahl. Auf jeden Fall zeichnet ihr dieses Brett hinein. Und dann springt ihr von diesem Brett ins Wasser und es spritzt wieder. Dieses Spritzen zeichnet ihr. Das Wasser hat keine andere Form als dieses Spritzen. Aber es hat vielleicht eine Begrenzung. Es hat vielleicht die Begrenzung eines Pools. Wie dieser Pool aussieht, ist euch überlassen. Es ist jedenfalls eine Linie, die alles andere begrenzt, um dieses Spritzen einzufassen.

Dann habt ihr den dritten Schritt gemacht. Vom intuitiven Zeichnen nach Musik, das das Thema Sommer schon berührt, seid ihr ins Wasser gesprungen, wo durch die wilde Artikulation von spritzendem Wasser durch das Hineinspringen wilde Zeichenstriche entstehen, bis als drittes die Geometrie dazu kommt. Das wilde, dynamische Spritzen bekommt einen kleinen Halt durch dieses geometrische Sprungbrett, von dem ihr hineinhüpft.

Bei diesen Übungen stellt sich die Frage, sollen meine Linien abstrakt oder realistisch sein? Bei den Arbeiten mit Musik und dem blinden Erzeugen von Linien mit dem Bleistift gelingen die Zeichnungen wunderbar abstrakt. Wenn jedoch eine konkrete Idee, wie der Sprung ins Wasser, kommt, ist die Verführung groß, das von außen zu zeigen. Sozusagen zu zeigen, wie das Brett oder der Sprung aussieht. Ich meine jedoch das Gefühl.

Was ereignet sich, wenn ihr ins kalte Nass springt? Bleibt ganz bei dem Gefühl. Schließt die Augen und macht euren Sprung. Ihr werdet sehen, was für einen Unterschied es macht, wenn ihr das mit dem Hirn zu lösen versucht. Der Verstand ist hemmend für das freie Fließen des Zeichnens, besonders am Beginn. Deshalb möchte ich, dass ihr euch ganz auf euer Gefühl einlässt. Einfach die Augen schließt und eure ganze Konzentration auf den Körper legt und erst dann den Stift nehmt und euch mit geschlossenen Augen vorstellt, wie es ist, wenn das Wasser eure Haut berührt.

Ich glaube, dieses Gefühl ist leichter auszudrücken, wenn man nicht hinschaut. Das Schauen kann auch hemmend sein, obwohl das Sehen sonst natürlich ein ganz wichtiger Vorgang in der bildenden Kunst ist. Aber wenn man hinschaut, ist der Intellekt so stark beschäftigt, dass man nicht mehr die richtigen Linien findet. Nicht loslassen kann. Loszulassen, das ist etwas sehr Befreiendes, ein unglaubliches Gefühl. Man öffnet sich selbst beim Zeichnen, weil man auf andere Parameter achtet. Auf den Aufdruck des Stiftes aufs Papier, auf den Schwung. Vielleicht wisst ihr dann nicht, in welche Richtung es geht oder könnt es nicht genau steuern. Ihr öffnet euch für das Gefühl des Eintauchens ins Wasser. Dafür, wie die Linien zueinander und miteinander wirken, wie sie auch das Spritzen verursachen. Das ist ein unvergleichliches Gefühl. Das kann man gar nicht sehen, das muss man spüren.

Ein zweiter Punkt, den ihr beachten müsst, betrifft die Farbe. Grundsätzlich ist es eine wunderbare Kombination, wenn ihr die Farbe als Fläche anwendet und dann mit dem Stift hineingeht. Aber man muss dabei natürlich auf gewisse Dinge achten. Zunächst einmal hat die Farbe eine eigene Wesenheit. Farbe ist mehrdimensional und vielschichtiger als die reine Linie. Wie trägt ihr also die Farbe so auf, dass sie mit der Linie ein Gespräch beginnt und sich mit ihr vereinigt?

Dass sie beide auf einer Ebene sind und sich nicht auseinander bewegen? Wenn ich in den vorausgegangenen Impulsen von Erzählung im Bild gesprochen habe, dann meine ich genau das. Dass Farbe und Linie im Bild nicht zusammenfinden. Wenn hier die Farbe und dort die Linie ist, dann muss das Auge hin und her springen. In der bildenden Kunst geht es um die Totalität im Bild, um den Gesamteindruck des Geschehens. In dem einem Moment des Hinschauens kann man das ganze Bild erfassen.
Damit steht die bildende Kunst im Gegensatz zu allen anderen Künsten, die Zeit brauchen, um die Botschaft des Ausdruckes zu verstehen. Ein Buch muss man lesen, zumindest ein paar Seiten. Ein Musikstück muss man hören, von Anfang bis zum Ende. Ein Tanzstück vom Anfang bis zum Ende sehen. Ein Theaterstück muss man sich von Anfang bis zum Ende ansehen.

Beim Bild hingegen ist keine Zeit notwendig. Da geht es um den Augenblick. Dieser eine Augenblick genügt, um das Bild zu erfassen. Natürlich kann man dann mit den Augen genießen und länger hinschauen, bei einem Detail verweilen. Aber wenn das Auge von einem Detail zum anderen springen muss, dann ist die Totalität im Bild verloren und es wird eine Erzählung. Und dieses Erzählerische möchten wir im Bild nicht haben. Dann haben wir eine Illustration. Die Illustration arbeitet mit der Erzählung, da ist das in Ordnung. Das ist eine ganz andere Sache.

Aber wenn wir die Zeichnung als Kunst verstehen, dann sollten wir dieses Erzählerische, diese Zeit dazwischen in der Betrachtung nicht haben. Wie könnt ihr aber selbst feststellen, ob eure Arbeit eine Erzählung oder ein wirkliches Kunstwerk ist? Der Trick ist folgender: Ihr schaut mit den Augen parallel auf das Bild. Ganz ruhig. Wenn der Blick sich ablenkt und sich auf ein Detail besonders fixieren muss, dann wisst ihr, da ist das Problem.

Ich wünsche euch sehr viel Vergnügen beim Zeichen. Ich wünsche euch sehr viel Vergnügen beim Betrachten mit parallelen Augen!