Buchstaben als Zeichen

Wassily Kandinsky, das war ein großer Meister zu Beginn des 20. Jahrhunderts, ist lange das erste abstrakte Gemälde zugeschrieben worden, aber wir wissen, dass sich die Kunstgeschichte ein bisschen verändert hat. Aber zumindest sein erstes abstraktes Bild hat er 1910 gemacht. Aber er war auch Theoretiker und hat zum Beispiel über grundlegende Linientypen geschrieben.

Die gerade Linie, die eckige Linie und die runde Linie. Er hat also sehr fasziniert auf diese Linien geschaut und auch die Verbindungen erkannt, die durch das Zeichnen entstehen. Wenn wir Verbindungen bei eckigen, geraden oder runden Linien herstellen, sind wir eigentlich gar nicht mehr weit entfernt von den Buchstaben. Ich möchte also heute Buchstaben als grafische Zeichen, als zu zeichnende Zeichen ausprobieren. Jeder Buchstabe ist nichts anderes als auch Zeichnung.

Wie können wir an diese Idee herangehen? Ihr alle kennt den Unterschied zwischen Schreibschrift und Druckschrift. Wenn ihr einen Schreibschriftbuchstaben Zeile für Zeile wiederholt, zum Beispiel ein J, ein L, ein M, dann entsteht durch dieses Schreiben eine Struktur. Ihr könnt in jeder Zeile einen neuen Buchstaben probieren und hin und wieder eine Zeile wiederholen. Aber ganz besonders möchte ich, dass ihr euch, während ihr schreibt, bewusst seid, dass alles, was ihr schreibt, Linie ist und diese Linie eine Vibration braucht. Das heißt, sie ist zarter oder stärker. Das ist die erste Übung.

Die zweite Aufgabe gestaltet ihr mit Druckbuchstaben. In Druckschrift habt ihr Buchstaben, die wie konstruiert ausschauen, Buchstaben, die wirklich so in einem Buch abgedruckt werden könnten. Aber nicht so klein, sondern macht sie richtig groß. Nehmt aber nicht die großen Buchstaben, da sind nicht so viele Rundungen drinnen. Nehmt lieber ein kleines M, ein kleines T, welchen Buchstaben auch immer ihr mögt. Also kleine Buchstaben, aber im Verhältnis zum Blatt groß gezeichnet.

Diese Druckbuchstaben ordnet ihr dann so an, dass sie sich überschneiden. Das heißt, ihr beginnt sie auf ein Blatt zu setzen, einen oben, einen rechts, links und so weiter und immer mehr und immer mehr, bis ihr keinen Platz mehr habt, sodass sie sich überschneiden. Wenn ihr genau schaut, sodass ihr dem Fluss dieser kleinen Druckbuchstaben folgt, werdet ihr feststellen, dass sie ganz schön geometrisch sind. Sie sind zwar rund, aber sie haben Geraden, Horizontale und Vertikale. Oder sie sind in Ecken zusammengeführt, zum Beispiel beim Z. Das R zum Beispiel hat alles, eine Rundung, eine Gerade und ein Eck. So könnt ihr diese Buchstaben übereinander lagern wie in einem unlesbaren Gewirr von Linien, die sich biegen und überschneiden.

Wenn wir Druckbuchstaben nehmen, ist interessant, dass sie fast genormt sind. Etwas, das so grafisch ist, so geometrisch in der Grundform, dass wir im Gegensatz zur Schreibschrift nicht sehr viele Variablen haben. Wie ihr ein kleines F in Schreibschrift in einer Zeile aneinanderfügt, F für F für F für F, und dann von mir aus ein E oder S oder L oder R, da sieht man viel mehr Individualität, viel mehr die Tatsache, dass die Hand und die Erfahrung dieser Schreibschrift eine Rolle spielen. Ihr werdet da sehr viel mehr Unterschiede sehen als bei Druckbuchstaben.

Ich lade euch ein, diese Linienübung im Sinne von Buchstaben in Schreibschrift und in Druckschrift gegenüberzustellen und zu schauen, was passiert. Achtet bei beiden wiederum ganz penibel darauf, dass die Zeilen und Linien schwingen. Bei den Druckbuchstaben rate ich euch, die Anordnung, auch wenn ihr sie durcheinanderwirbelt, immer im rechten Winkel zu halten. Die Druckbuchstaben sind also eben senkrecht oder waagrecht, ihr könnt die Richtung wechseln.

Macht nicht zu viele diagonal, das wirkt sonst zu durcheinander, weil beim X, beim Ypsilon, beim W, beim K, kommen die diagonalen Linien sowieso zu tragen. Aber wenn ihr ein weiches B, ein hartes T, ein M, ein E, ein S, und so weiter schreibt, wirbelt sie bitte immer im rechten Winkel durcheinander. Das kann mit Bleistift sein, das kann mit Tusche sein, aber schaut auf jeden Fall, dass ihr die Druckbuchstaben alle in einer ähnlichen Größe zueinander komponiert. Die Schreibschriftbuchstaben, wo ihr viele Buchstaben in einer Zeile schreibt, immer dieselben, bis die Zeile zu Ende ist, sind sehr individuell, je nachdem wie eure Handschrift ist.

Es ist immer schwierig, etwas, das man so gut aus dem Alltag kennt, als Kunstobjekt zu sehen, es als ästhetische Realität anzuerkennen, es jenseits des informativen Gehaltes zu sehen. Ich denke mit diesen Buchstaben, die ihr von der ersten Klasse Volkschule an studieren und schönschreiben musstet, habt ihr eine sehr schöne Übung dafür.

Ich wünsche euch bei diesem Experiment, das Schreiben und auch Zeichnen ist, sehr viel Freude und sehr viel Erfolg.