Die gerade Linie
Im letzten Impuls waren die Buchstaben als grafische Zeichen das Thema. Heute möchte ich euch wieder einmal die Linie ans Herz legen. Es gibt eine sehr schöne Geschichte: Zwei Künstler liefern sich einen Wettstreit darüber, wer die feinere Linie zeichnen könne. Abwechselnd und jedes Mal unbeobachtet vom anderen begeben sich Apelles, so hieß der eine der alten Griechen, und sein Rivale Protogenes zu einer Bildtafel und setzen ihre Linien darauf. Zuerst Apelles, dann Protogenes und dann noch einmal Apelles.
Das Ergebnis ist ein fast leeres Bild mit drei übereinanderliegenden unterschiedlich farbigen Linien. Und die dritte Linie ist so fein, dass kein Platz mehr für eine weitere ist. Das erzählt der römische Philosoph Plinius. Es soll ein so berühmtes Bild gewesen sein, dass der Sieger Apelles gesagt hat, dass er es sich zu einer beständigen Aufgabe machen würde, niemals einen Tag mehr vergehen zu lassen, ohne eine Linie zu ziehen, um sein Können zu üben. Das ist eine schöne Geschichte.
Wenn wir auch nur eine mit der Hand gezogene Linie sehen, können wir daraus, wie sie gezeichnet wurde, auf die Person Rückschlüsse ziehen, die sie ausgeführt hat. Wenn mehrere Linien sind, definiert sich daraus der Abstand und stellt Verbindungen her. Eine Linie auf einem Blatt kann die Fläche in zwei Teile teilen. Oben eine Fläche, unten eine Fläche, oder links und rechts. So bildet eine Linie die formale Grundlage für die Komposition eines Bildes.
Auch zeigen sich an der geraden Linie das Material der Zeichnung, die Geschwindigkeit, die Kraft der Ausführung. Ohne dass wir irgendeinen Inhalt oder eine Bedeutung vom Grundlegenden bekommen. Nichts lenkt ab, nur die Linie sehen wir. Ich möchte euch in diesem Impuls also dazu begeistern, ein Zeichenblatt zu nehmen und zunächst nur eine Linie zu zeichnen. Eine. Am besten auf ein A4 Blatt, eine Linie. Sie kann senkrecht sein oder waagrecht. Ihr könnt zwei Blätter probieren, eine senkrechte, eine waagrechte. Von oben bis unten oder von links nach rechts. Wie ihr sie setzt, wohin ihr sie setzt, wie fein sie schwingt, wohin sie vibriert, das erfordert allerhöchste Konzentration. Das ist Übung Nummer 1.
Für Übung Nummer 2, bei der ihr ein bisschen ins Experiment kommen könnt, braucht ihr Tusche und einen Faden. Ihr gebt die Tusche in ein Schälchen und vielleicht ein bisschen Wasser dazu, und dann nehmt ihr einen Faden – einen dünneren Spagat oder einen Wollfaden, je nachdem, was ihr gerade zuhause habt – und taucht diesen Faden in die Tusche. Mit diesem Faden in Tusche getaucht verteilt ihr nur waagrechte Linien auf dem Blatt. Ihr habt nur die Möglichkeit, den Faden einmal anzudrücken, nur einmal, und dann loszulassen. Dann taucht ihr ihn neu ein oder vielleicht ist der Faden noch feucht genug, dann dreht ihr ihn ein bisschen und gebt ihn wiederum als nächste Linie aufs Blatt. Von oben bis unten. Taucht den Faden ein, spannt ihn zwischen euren Händen und drückt ihn auf das Zeichenblatt. Diese Unregelmäßigkeiten, die zwangsläufig entstehen, weil der Faden nicht überall aufdrückt, verweigern die Kühle einer technischen Geraden.
Paul Gauguin sagt, die gerade Linie führt ins Unendliche. Also freut euch, einmal in die gerade Linie einzutauchen. Mit nur einer Linie auf dem Blatt waagrecht, auf einem neuen Blatt senkrecht und das dritte Blatt ist das Experiment mit dem Faden. Ich wünsche euch sehr viel Erfolg bei diesem Experiment mit der geraden Linie.