Transformation von Pflanzen – Tulpe
Schwierige und unsichere Zeiten motivieren die Sorgen von uns allen. Mein Rat lautet deshalb: geht zwischendurch in die Natur und zeichnet! Es ist gerade der Frühling eine so wunderbare Jahreszeit, weil in der Natur täglich eine sichtbare Veränderung festzustellen ist. Da sind Blüten, da sind grüne Teile an den Pflanzen, die beginnen auszutreiben. Mit der Zunahme des Lichts, der Dauer des Lichts am Tag, geht es sehr rasant, dass diese Knospen und Triebe mehr und mehr werden und aufblühen. Eine Pflanze, die in sich selbst besonders schöne Transformationen erfährt und erfahren hat, möchte ich in diesem Impuls genauer besprechen. Das ist die Tulpe.
Die Tulpe ist eine Blüte, die wir besonders im Frühjahr schätzen, weil sie so farbkräftige, wunderschön einfache Blüten hat, gut duftet oder oft im eigenen Garten blüht. Sie ist überall, kommt uns vor. Tatsächlich kommt die Tulpe aus dem mittelasiatischen Raum, genau genommen aus dem kaukasisch-persischen Raum. Noch heute gibt es dort entlegene Gegenden, wo sehr viele verschiedene Wildtulpen gedeihen, die noch nicht erforscht wurden. Der Name der Tulpe kommt aus dem Sanskrit, es wird angenommen, dass er vor 8000 Jahren entstanden ist.
Auch die persische Gattungsbezeichnung leitet sich aus dem Sanskrit ab und lautet „Lale“, was auch ins Türkische übernommen wurde. Das ist etwa im 9. Jahrhundert n. Chr. passiert und ab da findet man die Tulpe auch in der Literatur und in der bildenden Kunst. Die Tulpe war in der Darstellungsform zunächst also gar nicht so interessant und kam erst relativ spät in die Künste. Es gibt über 100 Arten an Tulpen, wobei noch nicht alle erforscht sind. Über die Türkei kam die Tulpe im 16. Jahrhundert in gezüchteten Varianten nach Europa und damit weiter in den Rest der Welt. Tulpen kann man überall finden. Die Pflanze wächst von einer Zwiebel aus und ist sehr anpassungsfähig. Sie kann in den verschiedensten Regionen sehr gut gedeihen, ob das karge, steinige Böden sind – dann sind es eben ganz kleine, wilde Formen – oder eine reichhaltige Blumenerde im Garten.
Die Tulpe hat in ihrer Bedeutung und Symbolik viele verschiedene Phasen durchgemacht. Mit der Verbreitung in Europa kam sie auch in die Niederlande und hat dort eine relativ kurze, aber sehr intensive Geschichte erlebt, als sie zu einem Spekulationsobjekt geworden ist. Es gibt eigene historische Abhandlungen über diese Tulpenzeit.
Im ausgehenden 16. Jahrhundert wurde mit Tulpen gehandelt, sie waren eine Wertanlage, die mehr wert war als das Gold zu der Zeit. Das müsst ihr euch vorstellen, wie wertvoll und begehrt Tulpen damals waren. Dieser blühende Handel hat circa 50 Jahre gedauert, diese Phase wurde später „die Tulpenmanie“ genannt. 1637 kam es dann zu einem Börsenkrach, wo die Tulpe als Spekulationsobjekt mit einem Schlag wertlos geworden ist. Das hat viele Existenzen in den Niedergang verbannt und in den Ruin gebracht und war natürlich eine fürchterliche Situation für die Reichen.
Trotzdem wird die Tulpe weiterhin eine Blume des Adels und des Geldbürgertums. Man hat die Tulpe in diesen Kreisen als große Ehrerbietung oder Liebesbezeugung verschenkt, man hat sie in den Gärten gepflegt und die Schlösser damit geschmückt. Auch in Kirchenliedern hat sie Einzug gehalten. Die Tulpe wurde als die personifizierte, aus der Natur kommende Schönheit gepriesen und in Liedern besungen. Erst später hat in den Niederlanden die tatsächliche Züchtung begonnen. Die Vielfalt an gezüchteten Tulpen, die wir heute aus Holland kennen, hat erst im 19. Jahrhundert begonnen.
Einige dieser Tulpen bekamen einen Virus, wodurch sie mehr Blütenblätter entwickelten. Das sind diese Arten, die noch zusätzliche innere Blütenblätter haben. Es ist sehr interessant, dass eben auch im pflanzlichen Bereich sichtbar werden kann, was Viren anrichten können. In dem Fall haben sie zu etwas Schönem geführt.
Zu einer großen Veränderung in der Bedeutung der Tulpe kam es in Holland dann 1945. Holland war damals komplett vom Rest von Europa abgeschnitten und ganz auf sich gestellt. Weil sie zunächst mit den Deutschen mitgewirkt hatten und dann später mit den Alliierten, wurden sie von allen Seiten gemieden und es wurden keine Lebensmittel mehr geliefert. Die Häfen waren zum Teil zerstört, der in Rotterdam wurde zweimal zerstört, zuerst von der einen und dann von der anderen Seite. Deshalb herrschte große Hungersnot. Und da wurde die Tulpenzwiebel wichtig.
Weil das Land eben isoliert war, kam auch der Handel zum Erliegen und so hat es so viele gezüchtete Tulpenzwiebeln gegeben. Die Lager waren voll, aber es wurde nichts verkauft. Und da haben Ärzte diese Zwiebel untersucht und festgestellt, wenn man sie in einer bestimmten Weise behandelt, könne man sie essen und sie hätten sehr viele Kohlenhydrate. So ist die Tulpe zum Symbol des „Hongerwinters“ geworden. Ihr seht, diese Blüte hat sich immer wieder neu erfunden und neu transformiert, aufgrund von historischen Ereignissen wirtschaftlicher Natur, als Spekulationsobjekt, als Nahrungsmittel, als Symbol, als spirituelle Funktion in der Religion. In der zeitgenössischen Kunst sind wir wiederum in einer Situation, in der die Tulpe eine große Beliebtheit im künstlerischen Gestalten erfährt. Die Tulpe taucht immer wieder auf und spielt eine Rolle in der Darstellung.
Ich möchte euch anregen, die natürliche Transformation einer Tulpe zu studieren. Das geht sehr einfach. Vielleicht habt ihr Tulpen im Garten oder ihr kauft sie in einem knospigen Zustand. Vielleicht gelingt es euch Tulpen zu bekommen, wo auch die Zwiebel dabei ist. Diese Tulpe studiert ihr zunächst in der Knospenform und, wenn vorhanden, mit der Tulpenzwiebel. Dann wird die Knospe langsam die Farbe verändern und es wird sichtbar, welche Farbe die Tulpe hat. Und sie wird zu einer frühen Blüte, die noch geschlossen ist. Bei Zimmerwärme geht das relativ schnell. Ihr studiert dann die Blüte und die Blätter der Tulpe.
Das sind sehr einfache Formen, aber studiert sie wirklich ganz genau, schaut genau hin. Langsam öffnet sich die Tulpe dann und ihr könnt das Innere anschauen. Ich rate euch, dann eine etwas andere Perspektive einzunehmen: den Blick von oben. So zeichnet ihr das Innere der Tulpe. Und wenn die Blüte sehr vorangeschritten ist, beginnen sich die Blütenblätter hinauszubewegen und sich hinunterzusenken und sie bilden einen Kelch, der sich nach außen beugt. Dieses Stadium ist sehr spannend, bevor die Blätter schließlich abfallen.
Auch die Staubgefäße fallen ab und es bleibt nur noch der Stempel. Auch dieses Stadium, in dem nur noch der Blütenstempel bleibt, ist von zeichnerischem Interesse. So könnt ihr Tag für Tag den Prozess der Veränderung beobachten. Nehmt ein großes Zeichenblatt und setzt die verschiedenen Stadien nebeneinander, haltet die Veränderungen auf einem Blatt fest. Die Knospe, die aufblühende Blüte, die schöne Hochblüte, die schon im Beginn begriffene Verblühung und schließlich die ganze Verblühung, wenn nur noch der Blütenstempel übrig und alles andere abgefallen ist.
Ihr könnt auch Farbe verwenden, um auch die Transformation der Farbe in der Blüte zu beobachten, diese verändert sich ebenso. In einem weiteren Schritt könnt ihr wie mit einem Skalpell voranschreiten. Schneidet die Zwiebel unten auf und studiert sie vom Inneren her, die Linien, die dort vorzufinden sind. Dasselbe könnte ihr mit dem Stempel machen. Schneidet den Stempel quer oder der Länge nach durch und schaut, wie das Innere ausschaut. Seziert auch eure Blüte und studiert sie ganz genau. Wenn ihr Freude daran habt, könnt ihr auch verschiedenfarbige Tulpen studieren und sie nebeneinandersetzen, sodass diese ganze Pracht und Fülle sichtbar werden, die in der Tulpe wohnt.
Diese Transformation vom Aufblühen, vom Werden und Vergehen, kann sehr schön über die Blüte der Tulpe dargestellt werden kann. Für die, die neu mit dem Zeichnen beginnen, ist es auch eine schöne Herausforderung, ganz an die Linie zu denken und die Form genau zu studieren. Seid langsam. Diese Blume in der Veränderung immer wieder zu studieren ist auch eine Herausforderung für die Geübten. Das ist keine so leichte Aufgabe, aber sie ist machbar. Die Tulpe bietet eben viele Möglichkeiten in der Zeichnung. Denkt an die Vibration der Linien!