Das Nest – Form, Struktur, Proportion

Wir haben im vergangenen Impuls das Thema Ei besprochen und wenn wir uns mit dem Ei beschäftigen, dann ist natürlich das Nest nicht weit. Denn wenn das Ei von Vögeln gelegt werden soll, so braucht es einen Schutz und das ist eben das Nest. Das Wort Nest kommt von dem vorgermanischen Wort „Nizdo“, was „Niederlassung“ bedeutet. Es ist auch verwandt mit dem lateinischen Begriff „nidus“ – das Nest, von dem sich auch das deutsche Wort „nieder“ ableitet. Als Nest werden verschiedene Baue von unterschiedlichen Tierarten bezeichnet, sie dienen entweder zum Schlafen, zum Wohnen oder zum Brüten. Die meisten Vögel bauen Gelege Nester, die sie so ausgestalten, dass sie sich zur Brutpflege eignen.

Zuerst ist das Ei geschützt und in der Folge dann auch die daraus schlüpfenden Küken. Ohne ein Nest würden die Eier wegrollen und kaputt gehen. Besonders beim Adler ist das der Fall. Die Adlernester, die wir auch Adlerhorst nennen, baut der Adler nicht so sehr für die Brut selbst, sondern vielmehr, damit die Eier nicht wegrollen. Bei den Störchen ist das genauso.

Nach dem Schlüpfen werden die jungen Tiere im Nest gefüttert und das Nest wird so lange genützt, bis sie ausfliegen. Aber nicht nur Vögel bauen Nester, sondern auch andere Tiere. Fische, zum Beispiel, machen Schaumnester, aber auch Insekten bauen Nester. Ein sehr bekanntes Nest, wenn man das so sagen kann, sind die Bienenwaben, und bei den Ameisen haben wir die Ameisennester. Uns interessiert aber vor allem das Vogelnest, das ist optisch und grafisch für uns Zeichner*innen sehr reizvoll.
Woraus besteht so ein Nest? Je nach Vogelart werden unterschiedliche Materialien gesammelt. Meistens tragen sie kleine Zweige, Stroh, Heu und trockene Gräser zusammen und bauen daraus ein Nest. Manche Vögel verwenden sogar Tierhaare, um das Nest ganz weich auszugestalten. Natürlich sind diese Nester sehr gefährdet, von anderen Tieren geplündert zu werden und da ist es interessant zu schauen, wo und wie die Nester gebaut werden. Und zwar sind sie genau so gebaut, dass sie zum einen dieser kommenden Last mit den Küken und den Vogeleltern Halt geben. Wenn da vier oder fünf junge Vögel schlüpfen und die Mutter im Nest sitzt, um zu brüten, und der Vater kommt, um die Mutter zu füttern und sich auch auf das Nest setzt, muss das also schon ein gewisses Gewicht aushalten. Aber zugleich muss es für andere Tiere, die Räuber sind und die Nester plündern wollen, schwierig oder gar nicht erreichbar sein.

Damit entstehen sehr viele unterschiedliche Formen, wie das Nest gebaut ist, und verschiedene Orte, wo es gebaut ist. Ein Beispiel sind die Schwalbennester, die mit Lehm gebaut sind und meistens bei Mauerecken zu finden sind. Die Schwalben können sich deshalb nur in Gegenden begeben, wo genügend unverbaute Wege sind und sich Pfützen bilden, aus denen sie dann den aufgeweichten Lehm zusammentragen. Erst innen im Nest geben sie dann noch Stroh und Gräser hinein, die sie finden.
Nester haben eine große kulturelle Entwicklung erlebt und eine metaphorische Bedeutung. Der Begriff Nest wird metaphorisch sehr stark in der Bezeichnung für Geborgenheit verwendet. Für eine angenehme Heimeligkeit, für eine Geborgenheit und Wärme spendende Gemeinschaft, also für Familie, Lebensgemeinschaften, Gemeinden, Gruppen, wo eine liebevolle, nette, warme Atmosphäre herrscht, in der man sich geborgen fühlt. Auch auf eine bestimmte Art gestaltete Räume, werden manchmal so empfunden, als ob sie ein Nest wären.

Es gibt auch ein sehr berühmtes architektonisches Nest, und zwar das Nationalstadion in Peking. Das wurde 2008 als Olympia-Stadion für die Sommerspiele in Peking eröffnet und wird im Volksmund als Nest bzw. Vogelnest bezeichnet. Viele zeitgenössische Künstler haben sich mit dem Nest beschäftigt, indem sie über die Form des Nestes, dieses Thema von Geborgenheit und Wärme thematisieren oder auch die nicht vorhandene Wärme und Geborgenheit in unserer Gesellschaft kritisieren.
Zu Ostern gibt es diesen schönen Brauch, in einem Osternest Ostereier, Osterhasen oder kleine Geschenke zu arrangieren und zu verstecken, damit Kinder es mit viel Begeisterung suchen. Dieses Osternest ist ebenso ein Symbol für Geborgenheit, Wärme und Nähe. Es erinnert uns in dieser österlichen Vorfreude an den Frühling, an die Auferstehung, an alle diese Oster-Geheimnisse, die es in unserer Volkskultur gibt und als Brauchtum jedes Jahr aufs Neue gepflegt wird.

Die Herausforderung für die Zeichnung ist, nur linear zu arbeiten. Denkt an die vielen Möglichkeiten von Dingen, die die Tiere sammeln, um ein Nest zu bauen. Das sind alles nur Linien. Mit diesen Linien baut ihr ein Nest. Diese Linien sind ganz konzentriert und wunderbar stark. Versucht einfach einmal nur ein Nest. Naturgemäß ist das Nest rund. Denkt dabei daran, dass dieses Nest, diese Linien, aus denen sich euer Nest bildet, einen bestimmten Platz im Blatt einnehmen. Bitte geht bewusst darauf ein, dass ihr ein Nest auf einem Blatt habt. Nicht fünf Nester, ein Nest.

Und dieses eine braucht den richtigen Platz. So wie der Vogel sich den richtigen Platz sucht, damit die Feinde das Nest nicht zerstören, oder die Eier rauben. Dieses Nest baut ihr, in eurer ersten Zeichnung. Keine Extras, nur das Nest. In der zweiten Zeichnung wird es etwas schwieriger, weil es die Größenverhältnisse, groß und klein, verlangt. Das sind immer wieder neue Herausforderungen in jeder Zeichnung. Nämlich, ein Nest und ein Ei oder auch mehrere Eier. Und die Eier sind im Verhältnis zum Nest zu sehen. Ihr müsst also verstehen, dass es sich nicht um ein Vogelstrauß-Ei in einem Schwalbennest handelt.
Ein Vogelstrauß-Ei ginge auch, aber dann braucht es ein riesiges Nest, um dieses Ei im Verhältnis klein ausschauen zu lassen. Das gleiche Prinzip gilt bei einem Vogelnest einer Amsel oder einer Meise. Das sind kleine Nester und ganz kleine Eier. Manchmal sind sie gesprenkelt, manchmal sogar bläulich, alle sind ein bisschen unterschiedlich. Das Wesentliche ist die Größe des Eis im Verhältnis zum Nest.

Denkt an die Übung mit dem Zündholz. Auch hier haben wir diese Größenverhältnisse, durch die ihr eine Spannung in eurer Zeichnung erzeugt. Es ist sehr wichtig, dass die Form des Eis einen Bezugspunkt hat, nämlich das Nest. Das ist eine kleine Herausforderung, die euch aber gut gelingen wird. Ich wünsche euch jedenfalls viel Muße und viel Freude bei dieser zeichnerischen Herausforderung und bei diesem sehr schönen Thema, weil es euch fortwährend an Wärme, an Geborgenheit und an neues Leben erinnert. Taucht ein in dieses schöne Thema!