Veilchen

Wir haben gesehen, dass Zeichnungen, wenn sie linear angelegt sind, eine ganz andere Spannung erhalten, als wenn sie flächig sind. Deswegen bestärke ich euch sehr in den Linien. Die Linien sind das grundlegende Medium für die Zeichnung, der Ausdruck einer Linie ist die Königsdisziplin in der Zeichnung. In diesem Impuls üben wir den Ausdruck der Linie mit den Veilchen.

Das Herkunftswort für Veilchen ist Viola. Da steckt das Wort „violett“ drin, weil diese Blüten violett sind – sie enthalten den Farbstoff Violanin – und daraus hat sich dann auch der Name Veilchen abgeleitet. Das Veilchen kommt in den meisten gemäßigten Gebieten der Erde vor. Man schätzt circa 650 verschiedene Arten, die größte Artenvielfalt von Veilchen ist in Nordamerika, in den Anden, und in Japan. Darum sind in der Malerei Japans besonders häufig Veilchen zu finden. Die Veilchen können duften, deshalb sind sie auch in der Parfümindustrie im Einsatz. Allerdings werden die natürlichen Veilchen schon durch künstliche Düfte ersetzt, weil die Veilchen nicht mehr so zahlreich sind, wie man sie für Düfte brauchen würde.

Das Veilchen ist auch ein Symbol und steht für Bescheidenheit, für Demut, für Jungfräulichkeit, für das Paradies, für Frühling, für Hoffnung, für Fruchtbarkeit, für Treue und für Liebe. Das Veilchen ist besonders für Christus und für Maria ein wichtiges Attribut durch die Bescheidenheits- und Demutssymbolik. Natürlich ranken sich um das Veilchen auch viele alte Sagen und Legenden.

Es gibt eine Sage, in der die Tochter des Atlas in ein Veilchen verwandelt wurde, als sie sich vor Apoll, der sie verehrte, verbergen wollte. Von daher kommt auch diese Bescheidenheitssymbolik. Auch bei der Entstehungslegende um das Instrument der Viola spielt das Veilchen eine Rolle. Und auch die griechische Göttin Io – ihr kennt die nach ihr benannten Ionischen Inseln – wird mit dem Veilchen in Verbindung gesetzt, weil man sagt, dass ihre Haartracht aus Veilchen besteht.
Die Veilchen haben also in der Literatur, in der Kunst und in der Musik eine große Resonanz gefunden. Guiseppe Arcimboldo hat Porträts gemacht mit Köpfen und Körpern aus Gemüse und Blüten, um beispielsweise den Frühling zu symbolisieren. Da sind Rosen verwertet, aber auch viele andere Blumen: die Zähne sind Maiglöckchen, die Brust und das Dekolleté sind aus Veilchen und Kleeblättern, Kornblumen und Iris, Päonien und so weiter.
In der Literatur gibt es seit den frühesten Zeiten eine große Veilchenmode. Schon in der Antike, 400 v.Chr. hat es Veilchendarstellungen gegeben. Auch Goethe hat sich dem Veilchen gewidmet. Die Musik ist voll mit Liedern dazu. Das Veilchen inspiriert unendlich die Fantasie. Auch in der Medizin hat es Verwendung gefunden. Im Altertum bei den Römern war es ein beliebtes Mittel gegen den Kater, wenn man zu viel getrunken hat. Auch später wurde es vielfach genützt, auf der Haut, als Tee, als Hustenmittel, als schweißtreibendes Mittel.

Es hat über die Jahrhunderte viele Zitate gegeben, die man in alten Kräuterbüchern findet. Hildegard von Bingen hat Veilchen bei Augenkrankheiten, bei Sehschwächen, Augenentzündungen, Augenbrennen und bei Kopfschmerzen sehr geschätzt. Kaiser Karl hat Halspastillen genommen. Es gab heilkräftigen Veilchenblütensirup. Sebastian Kneipp hat die Veilchen als Hustentee empfohlen. Bis heute gibt es in der Bachblütentherapie die Essenz von Wasserveilchen als Heilkraut für die Einsamen und die Unnahbaren.

Wenn wir das Veilchen anschauen und es genau betrachten, sehen wir, dass das Veilchen fünf nicht ganz gleiche Blätter hat. Jedes Blatt ist ein bisschen anders geformt. Es lohnt sich sehr, diese genau anzuschauen. Dann seht ihr auch, dass die Stängel eine Doppellinie brauchen und dass die Blätter zunächst nur linear angelegt sind. Ihr könnt euch auch mit den Wurzeln beschäftigen. Schön wäre es, wenn ihr in die Natur hinaus geht und dort Veilchen findet. Versucht es zunächst nur als Zeichnung, als reine Naturstudie. Dann, wenn ihr Zeit und Freude und Energie habt, könnt ihr gerne auch eine farbige Arbeit daraus machen.

Im Frühling werden die Farben ja immer sehnsüchtig erwartet, und die ersten Frühlingsboten empfinden unsere Augen immer als wohltuend. Ihr könnt also gerne zu euren Buntstiften, Aquarellfarben oder Gouache Farben greifen und die Veilchen farblich umsetzen.

Für die, die die Farbe nicht unbedingt brauchen und lieber freier arbeiten, gibt es noch eine weitere Anregung: wenn ihr das Veilchen gut studiert habt, seine Form und die Details, dann versucht die Augen zu schließen und blind zu zeichnen. Ihr werdet staunen, wie viel ihr euch durch das Studium der Form gemerkt habt. Ich wünsche euch eine sehr schöne Zeichenphase mit den Veilchen.

Das hat so etwas Frühlingshaftes, Beschwingtes und vielleicht zwitschert euch ein Vogel ein Lied zum Veilchen!