Abstraktion durch Vergrößerung
Wir haben zum Thema Natur und Abstraktion nun einige Wege beschritten, wie das geht, in eine abstraktere Form zu kommen. In diesem Impuls schlage ich euch eine explizit vor, die wir schon kurz angesprochen haben, und zwar ist das die Vergrößerung. Ihr könnt ein Ding aus der Natur, ein ganz realistisches Ding aus der Natur, so vergrößern, dass die Betrachterin oder der Betrachter nicht mehr den Zusammenhang herstellen kann, worum es geht, und trotzdem sind die Konturen aus der Natur entnommen.
Um dorthin zu gelangen ist es am einfachsten, mit einer Kamera in die Natur zu gehen und gewisse Eindrücke festzuhalten. Ob das die Landschaft ist, eine Baumgruppe, ein Baum, Pflanzenteile, Blüten, was immer es ist, ihr geht mit eurem feinfühlenden Auge daran heran und fotografiert es. Macht etliche Fotos. Wenn ihr zuhause seid, geht ihr zum Computer oder Tablet und schaut euch die Fotos an. Da habt ihr die Möglichkeit die Sache zu vergrößern, indem ihr heranzoomt. Am besten geht es, wenn ihr am Computer unter „Bearbeiten“ die Funktion „Zuschneiden“ verwendet. Dann könnt ihr einen Ausschnitt wählen, den der Computer dann automatisch vergrößert. Ihr könnt also genau zuschneiden, was ihr vergrößern, welche Details interessant sind. Das ist sehr einfach.
Ihr schneidet das Foto so zu, wie ihr seht, dass ihr euch vorstellen könnt, dass der Teil durchs Zeichnen definiert ist und der andere Teil weiß bleibt. Wenn ihr diesen Ausschnitt gefunden habt, druckt ihr ihn, wenn ihr einen Drucker habt, in Schwarz-Weiß aus und geht dann zu eurem Zeichenblatt. So ergibt sich noch einmal eine Verfremdung, noch einmal eine Abstraktionsebene: Ihr habt einmal einen realistischen Fund, den ihr in der Natur gesehen habt. Dann fotografiert ihr, das ist bereits der erste Schritt des Abstrahierens, weil es dabei zweidimensional wird. Dann vergrößert ihr, das heißt ihr verfremdet noch weiter, sodass nicht mehr erkennbar ist, was es ist. Aber es ist noch immer in Farbe. Durch das Ausdrucken wird es noch einmal verfremdet, weil es viel gröber und nicht so fein ist und auch noch in Schwarz-Weiß. Natürlich geht es auch in Farbe, das ist euch überlassen. Dann seid ihr endlich mit eurem Vorhaben beim Zeichenblatt.
Ihr definiert am Zeichenblatt ein Quadrat, das habt ihr in den Impulsen schon sehr schön geübt, und legt mit dem Lineal eine gute Position für dieses Quadrat an. Das kann wieder größer sein, sodass dieser kleine Ausschnitt der Pflanze, nur mehr ein kleiner Teil eines Blattes oder einer Blüte, plötzlich wieder groß wird. Ihr könnt es wieder vergrößern, weil ihr es in eurem Quadrat hineinvergrößert. Natürlich ist durch das Zeichnen noch einmal eine Abstraktionsebene eingezogen, indem ihr letztlich entscheidet, welche Linien, welche Flächen ihr von dem Ausschnitt des Fotos nehmt.
Wenn ihr die Flächen im Verhältnis zu dem bestimmt, was weiß bleiben soll – weil da muss etwas weiß bleiben – könnt ihr euch mit dem Stift austoben. Immer mit dem Wissen, dass die Qualität der Linie, des Punktes oder des Striches das ausschlaggebende Element ist.
Wenn ihr viele Striche nebeneinandersetzt, so sind diese präzise und schön gesetzt, aber sie ergeben eine Fläche. Sie erzeugen in Summe eine Fläche, die ihr auch steuern könnt, indem ihr die Linien oder die Striche zarter oder kräftiger macht. Da könnt ihr sehr viel Licht in eine Fläche hineinzaubern. Von dunkel nach hell, von hell nach dunkel, könnt ihr changieren.
Oder ihr wählt die ganz harten Kontraste und macht die Flächen, die ihr auszeichnet, sehr dunkel und das, was das Weiß des Blattes ist bleibt weiß. Dann sind diese Hell-Dunkel-Kontraste sehr stark. Es bewährt sich oft, wenn ihr damit fertig seid, zu schauen, ob es irgendwo eine zarte Linie braucht, eine dünne, präzise Linie.
Die kann dieses Vergrößerungsprojekt noch sehr verfeinern. Beobachtet. Vielleicht ist in eurem Foto, in diesem Originalfoto etwas, was feine Linien hat und euch anregt. Das muss nicht im Zusammenhang mit dem Objekt stehen, das ihr macht. Aber wenn ihr es herausnehmt, wird es im Zusammenhang zu sehen sein und bekommt einen Bezug im Bild, es geht einen Dialog ein. So könnt ihr vielfältig spielen und auch austoben und ein Bild nach dem anderen ausprobieren, sodass ihr eine ganze Serie dieser Vergrößerungen erzeugt.
Diese Vergrößerungen werden euch zu vielen weiteren Ideen führen, was die Struktur betrifft. Manche Blüten oder Blätter haben eine wunderbare Struktur, die man mit freiem Auge gar nicht beachten würde; Punkte oder kleine erhabene Elemente, die euch zu einer Struktur anregen, oder Verästelungen, die man vorher so nicht wahrgenommen hat. Das alles vergrößert ihr, wie mit einem Mikroskop, und viele kleine Details werden sichtbar. Das ist sehr anregend.
Denkt immer an die Qualität der Linie. Denkt an die strukturelle Identität im Bild. Das heißt, wenn ihr kurze Striche nehmt, zieht ihr das in dieser Zeichnung durch, überall die kurzen Striche. Wenn ihr nur lange Linien habt, verwendet ihr die langen Linien. Wenn ihr Punkte habt, verwendet ihr nur Punkte. Und wenn ihr mehrere Formen habt, und eine hat Punkte, die andere hat Striche, eine hat Linien, so beginnt ihr die Zeichnung. Aber in jedem Element, in jeder Phase im Bild müssen sich diese Strukturen wiederholen, sodass die Linien öfter vorkommen, die Striche mehrmals an verschiedenen Orten vorkommen und genauso die Kumulationen von Punkten, sodass sich diese zusammenschließen. Das könnt ihr zum Beispiel in den abstrakten Bildern von Albert Oehlen beobachten, bei den wunderbaren Zeichnungen von Vincent van Gogh sehen, wo die einzelnen Strukturen in sehr abstrakten Formen immer wieder im Dialog zueinanderstehen, und überall verteilt am Bild vorkommen. Diese strukturelle Identität ist sehr wichtig zu verstehen.
Ihr achtet also auf die Qualität der Linien, die strukturelle Identität und neu hinzukommt, dass ihr mit der Zeit mehr und mehr Begriffe findet, wie das Bild sein soll. Das geht über die Eigenschaftswörter. Eines davon wählt ihr für eure Zeichnung. Geheimnisvoll. Aufregend. Still, ganz leise. Zart. Grob. Aggressiv. Brutal. Überraschend. Euch werden viele, viele Begriffe einfallen. Mehr und mehr nehmt ihr einen dieser Begriffe als leitendes Thema für euer zeichnerisches Vorhaben und danach richten sich dann eure Linien im Bild. Wie z.B. die Frage: wie soll meine Zeichnung heute sein? Geheimnisvoll, überraschend? Usw.
Die Grundvoraussetzung des Zeichnens und des Malens – das gebe ich euch noch einmal in Erinnerung – ist: schön im Augenblick und schön bei euch selbst zu bleiben. Das sind die grundlegenden Voraussetzungen für eine gelungene Arbeit. Vergesst das nie und nehmt es immer mehr auch in den Alltag mit, das kann man immer brauchen. Es ist eine wunderbare Sache, die man nicht vergessen darf: bei sich bleiben und ganz im Moment. Vor allem, in unserem Fall, bei der Spitze des Stiftes.
Ich wünsche euch viel Spaß und schöne Ergebnisse!