Elementare Ordnungen
Wenn belastende Nachrichten von außen ins Gemüt hineindringen, dann ist es immer gut, sich der Kunst zuzuwenden, die Gedanken in die Ästhetik hineinzumanövrieren und sich mit Fragestellungen zu beschäftigen, die scheinbar nichts mit unserem Alltagsleben zu tun haben und dennoch, diese ästhetischen Fragen sind genau diese Fragen und Antworten, die unser Leben reich machen und mit Freude erfüllen. Die uns mit existentiellen Dingen in Kontakt bringen, die uns selbst spüren lassen, was uns als Mensch ausmacht, unser eigenes Wesen. Mit euren Zeichnungen könnt ihr das wunderbar verstehen und euch vertiefen. Eure Zeichnungen sind wie ein wärmender Sonnenstrahl, den ihr mit der Welt teilt.
Wenn ihr ein Bild, eine Zeichnung oder auch ein gemaltes Bild anschaut, dann gibt es darin eine gewisse Ordnung. Sobald ihr mit dem Zeichenstift ein Zeichen auf das Blatt Papier setzt, habt ihr bereits einen Kontrast von Hell und Dunkel. Ich spreche in der Folge in der Annahme, dass ihr in der Zeichnung in Schwarz-Weiß arbeitet, aber es gilt in bestimmter Weise genauso, wenn ihr statt dem Bleistift einen Buntstift nehmt, denn manche Farben wirken heller und manche eben dunkler.
Es ist jedenfalls der Kontrast von Hell und Dunkel. Dieses Prinzip von Hell und Dunkel, das Weiß des Blattes und der Dunkelheit der Zeichnung, tritt in ein bestimmtes Verhältnis. Ab einem bestimmten Zeitpunkt während des Zeichnens wird das Weiß genauso stark wie das Schwarze oder das Dunkle. Deshalb ist es besonders wichtig, das Weiß im Auge zu haben, genauso wie die Linien oder die Elemente, die ihr auf das Blatt verteilt. Der Ausdruck von Hell und Dunkel kann ganz unterschiedlich erzeugt werden, durch Punkte, durch Linien, durch schwarz-weiß-Flächen oder eben auch durch Farben. Die Punkte und Linien vereinigen sich zu einer kollektiven Masse, zum Beispiel zu einer Fläche.
Dann kommt es zu Gruppenbildungen, die im Zusammenwirken von diesen vielen Punkten und Linien letztendlich den Erfolg für das Gelingen einer Zeichnung darstellen. Wenn sich diese Elemente also irgendwann verdichten, entwickeln sich daraus Formen und damit ein Hell-Dunkel-Kontrast, sodass eine ganze Reihe von Beziehungen innerhalb dieser Elemente entsteht. Das ergibt die elementare Ordnung in einem Bild. Eine hell-und-dunkel-Masse, die der Künstler / die Künstlerin grob für sich definiert, um seine Komposition zu entwickeln. Sie sind für jedes Bild ausschlaggebend, genauso wie für die Analyse. Wenn ihr auf die großen Meister schaut, könnt ihr in deren Bildern gewisse Ordnungen erkennen, genauso wie in euren eigenen Arbeiten. Es handelt sich bei diesen elementaren Ordnungen um grundlegende Fragen der Komposition, wie und wo die Elemente verteilt werden. Das könnt ihr in diesem Impuls ganz einfach üben.
Was ist eine elementare Ordnung in einem Bild? Es gibt die horizontale Ordnung, die vertikale Ordnung, die diagonale Ordnung, und dann die Mischformen. Horizontal-vertikal, horizontal-diagonal, vertikal-diagonal, diagonal-diagonal, horizontal-vertikal-diagonal und natürlich auch zirkulär. Wie gestaltet ihr das? Zeichnet euch auf eurem Zeichenblatt Felder ein, teilt sie zum Beispiel in neun Quadrate, um in jedem Quadrat eine dieser Ordnungen auszuprobieren. Im ersten Quadrat bestimmt ihr eine horizontale Gerade, und der eine Teil, wo die Linie diese Fläche trennt, wird dunkel mit vielen feinen Strichen nahezu schwarz definiert, und der andere Teil bleibt weiß. Genauso macht ihr es mit der vertikalen Linie. Ihr zieht also längs eine Linie, habt einen Teil dunkel, fein definiert mit dunklen Strichen, und eine weiße Fläche.
Diagonal genauso. Zieht vom linken unteren Eck bis zum rechten oberen Eck eine Linie. Durch diese Diagonale ergeben sich zwei Dreiecke, ein Dreieck ist ganz dunkel und das andere ist weiß. Horizontal-vertikal ist auch ganz leicht: Ihr zieht eine horizontale Linie und eine vertikale Linie, dadurch entstehen zwei Rechtecke, die sich wie ein L begegnen. Das L ist dunkel, übrig bleibt ein kleines Rechteck in Weiß. Oder umgekehrt.
Ihr könnt das weiterspielen mit vertikal-diagonal: Eine vertikale Linie und auf einer Seite eine Diagonale, das ergibt ein Dreieck und ein Rechteck, die zusammenfinden und diesen Teil definiert ihr schwarz, der Rest bleibt Weiß. Dasselbe macht ihr mit horizontal-diagonal.
Für die Ordnung diagonal-diagonal geht die Linie von einem unteren Eck zur gegenüberliegenden oberen Linie, nicht ganz ins obere Eck, also die Linie endet etwas vor dem Eck an der Kante. Dann geht von dort eine zweite Linie zum oberen Eck auf der anderen Seite, sodass ungefähr wie ein „K“ entsteht. Also zuerst in eine Richtung die Diagonale, dann in die andere Richtung. Auch da definiert ihr das Schwarz.
Bei horizontal-vertikal-diagonal hat man das Gefühl, dass ein Teil eines Hauses zu sehen ist. Oben das Dach etwas angeschnitten, dann ein Quadrat und unten das Rechteck, die horizontale Linie einer Landschaft.
Die zirkuläre Ordnung könnt ihr beidseitig denken: die runde Form im Blatt kann dunkel oder hell sein. Ihr könnt euch entscheiden, ist die zirkuläre Form hell und die Fläche außen herum dunkel oder umgekehrt.
Das sind sehr wichtige, grundlegende Übungen, um den Ordnungssinn im Bild zu entwickeln. Dieser Ordnungssinn als Ausdrucksform im Bild ist die Grundlage für alles, was Komposition bedeutet. Wenn man in der bildenden Kunst von Komposition spricht, meint man als Grundausgangslage die elementaren Ordnungen. Diese Ordnungsformen klingen banal, aber sie sind nichts, das bequem ist, nicht etwas, das trivial oder einfach ist. Als Künstler*in muss man genau wissen, wann man die eine oder die andere oder vielleicht auch keine von diesen Ordnungsformen anwendet.
Studiert in dieser Übung diese elementaren Ordnungen für euch und probiert sie aus, damit ihr sie dann auch anzuwenden versteht. Man ist sonst sehr versucht, immer wieder dieselbe Ordnung anzuwenden. Deshalb diese Übung, in der ihr den Hell-Dunkel-Kontrast als Masse in dieser elementaren Ordnung mit vielen kleinen Strichen definiert, sodass ihr sehr schöne Flächen erzeugt.
Das kann mit Kohle sein, mit Ölkreide oder mit einem weichen Bleistift. Auf jeden Fall definiert ihr eure Zeichnung linear in den elementaren Ordnungen: Horizontal, vertikal, diagonal, horizontal-vertikal, horizontal-diagonal, diagonal-diagonal, horizontal-vertikal-diagonal und zirkulär. Jede dieser Ordnungen hat einen begrenzten, fest umrissenen Ausdruckscharakter. Den zu finden, erfordert viel Begabung und viel Intelligenz. Es ist also eine komplexe Herausforderung, die ich euch heute stelle, die aber einfach zu lösen ist und die ihr bestimmt mit Bravour leistet.
Ich wünsche euch viel Spaß bei diesen Experimenten mit dem Hell-Dunkel-Kontrast als Masse in der elementaren Ordnung!