Das Studium der Natur

Wenn wir gemeinsam mit dem Zeichenstift über Natur und Abstraktion nachdenken, ist das eine Situation, die natürlich auch Geschichte hat. Früher – und damit ist gemeint im 19. Jahrhundert und davor – war es die einzige Möglichkeit durch die realistische Darstellung mitzuteilen, wie Dinge aussehen. Mit der Entwicklung der Fotografie hat sich für die Zeichnung und Malerei sehr viel geändert. Ein Monet wäre ohne Fotografie nicht denkbar. Das heißt, die Impressionisten zu der Zeit haben die Chance erkannt, dass sie nicht mehr gezwungen sind, die Dinge darzustellen, wie der Realismus es einfordert, sondern sie konnten abstrahieren und Stimmungen ausdrücken. Das war der Aufbruch hinein in die Moderne und schließlich der Wegbereiter für die abstrakte Kunst. Das Studium der Natur in der Zeichnung ist bis heute unabdingbar für jede Kunstausbildung und überaus aktuell.

Dabei stellt sich oft die Frage: Was hat das für einen Wert, die Natur zu studieren, wenn man sie doch fotografieren kann? Die Antwort ist, dass durch die Zeichnung oder Malerei etwas dazukommt, das nur durch Zeichnung oder Malerei möglich ist und nicht durch die Fotografie. Es ist eben die Hand des Künstlers etwas freizulegen, etwas sichtbar zu machen, das zwar da ist, das aber niemand gesehen hat. Das aber der Künstler durch seine Linien, durch die Vibration der Linien, und durch die Komposition aufs Neue sichtbar macht. In dem Sinne ist Naturstudie auch eine Forschungsreise. Etwas, das ihr selbst neu entdeckt.

Die Fotografie ist in ihrer künstlerischen Ausdrucksform mit den gleichen Parametern beschäftigt wie die Zeichnung und wenn jemand gut fotografieren will, müssen die feinsten Unterschiede des Lichtes gesehen, gespürt und die Komposition beherrscht werden.
Wenn ihr aber mit dem Zeichenstift beginnt etwas zu zeichnen, seid ihr viel langsamer, dann ihr müsst ganz genau hinschauen, um es in eine Linie zu übertragen. In dem Moment, in dem ihr zum Zeichenstift greift und die Natur studiert, ist es schon eine Abstraktionsleistung. Weil ihr ein dreidimensionales Objekt studiert, das ihr dann zweidimensional umsetzt, eine Linie auf die Fläche. Daher lade ich euch ein, in diesem Impuls einen Bogen zu spannen zwischen Naturstudie und dem, was Abstraktion ist.

Geht also in die Natur hinaus und lasst euch finden. Denn eine Grundvoraussetzung, die Natur mit dem Zeichenstift zu studieren, ist in erster Linie die Liebe zu dem Gegenstand, den ihr euch vornehmt, den ihr euch ganz genau anschaut, den ihr euch stundenlang anschaut und versucht, die feinsten Erhebungen, Vertiefungen und Krümmungen, ja das Wesen des Gegenstandes zu erfassen. Das ist ein ganz, ganz langsamer Prozess und deshalb müsst ihr es lieben, das, was ihr anschaut. Ihr wisst schon, wenn man etwas liebt, hat man andere Augen dafür. Das ist beim Menschen nicht anders, man sieht die Dinge leichter. So ist es auch mit der Natur, mit dem, was ihr zeichnen möchtet. Dann seid ihr schon von der Muse geküsst und es fällt euch in den Schoß.

Diese Auswahl ist eine sehr persönliche. Ist es eine Blüte, ist es ein Blatt. Ist es etwas, das nicht mitnehmbar ist, wo ihr euch hinsetzen müsst und vor Ort studieren. Aber als ersten Schritt rate ich auf jeden Fall dazu, es möglichst mit etwas zu versuchen, das euch einfach genug erscheint. Es ist dann immer noch sehr komplex. Denn alles, was auch einfach erscheint, hat feinste Unterschiede und auf diese kommt es an. Es kommt darauf an, ob ihr diese feinsten Bewegungen in der Form mit dem Bleistift aufnehmen könnt. Da wird die Sache schon sehr fordernd, denn die feinsten Unterschiede sind in der Zeichnung manchmal wie riesige Täler und Berge in der Bewegung der Linie, aber dabei ist es nur graduell im Unterschied. Es lässt sich in Millimetern gar nicht ausdrücken, dass dieser Unterschied sichtbar ist. Er ist nur ahnungsweise.
Nehmt für den Anfang nur einen Ausschnitt. Wenn ihr also etwas habt, das Blüten und Blätter und Stängel hat, dann nehmt nur einen Ausschnitt davon. Nehmt nur einen kleinen Teil, den ihr studiert, den ihr aber sehr, sehr genau prüft, wo er sitzen soll, wo er ins Blatt kommen soll. Das ist essenziell für das Gelingen der Zeichnung. Ihr merkt schon eine weitere Grundvoraussetzung für die Naturstudie. Die heißt: langsam. Ganz langsam studiert ihr sehr genau die Form, die ihr euch vorgenommen habt. So langsam, dass ihr nicht glaubt, wie langsam überhaupt langsam geht. Und selbst dann seid ihr noch zu schnell. Atmet tief ein und seid ganz langsam, ganz bei euch, ganz bei der Bleistiftspitze, ganz bei dem Ding, das ihr zeichnet.

Wenn ihr in einer Stunde einen Zentimeter abbilden könnt, so wie er in der Natur funktioniert, dann seid ihr im richtigen Tempo. Ganz langsam. Ganz langsam studiert ihr zunächst nur die Kontur, die äußere Form dessen, was ihr gefunden habt. Und da schaut ihr auf die kleinsten Unterschiede. Wenn ihr die Kontur dieser Form erfasst habt, nur die Kontur mit der Linie, die vibriert, dann weiß das Auge eigentlich schon, wie alles innen ausschaut. Ihr könnt, wenn ihr wollt, ein paar kleine Details im Inneren auch ansatzweise studieren, mit zarten Linien. Aber das ist nicht die Hauptsache. Es ist das Studium der äußeren Kontur, die ich euch ans Herz lege, bei dem die Linie perfekt vibriert. Ganz zarte feine Unterschiede. Bleistift spitzen. Und langsam sein.

Von unserem Thema Natur und Abstraktion haben wir den ersten Abstraktionsschritt schon besprochen, nämlich vom Dreidimensionalen ins Zweidimensionale, wobei diese Zeichnung so realistisch wie möglich ist. Für die weiteren Abstraktionsschritte gibt es zwei Möglichkeiten, die ich euch vorschlage. Nachdem ihr eure lupenreine Naturstudie habt, versucht ihr, um diese Blüte oder dieses Blatt herum an den äußersten Bezugspunkten Linien zu ziehen und versucht, sie miteinander zu verbinden.
Diese Linien zieht ihr mit dem Lineal, auch wenn das auf den ersten Blick vielleicht widerstrebt. Aber nach der Naturstudie, die vitale Linien hat, braucht ihr diese Geometrie für die weitere Komposition. Ihr leitet also von diesen Bezugspunkten, diesen äußeren Eckpunkten oder Spitzen oder Kanten, geometrische Linien ab oder zieht aus den inneren Linien eine Verlängerung hinaus, die sich mit der Zeit irgendwo treffen. Dann seht ihr, dass dadurch eine Geometrie entsteht. Ein Quadrat, ein Dreieck, ein Rechteck, ein Fünfeck, ein Sechseck, ein Vieleck, ein Kreis, alles Mögliche. Aber es ist Geometrie. Ihr habt damit das Thema Vitalität, nämlich die naturalistische Form eures Naturgegenstandes, in die Geometrie hinein entwickelt. Diese zwei Pole, Vitalität und Geometrie, um die ringt ihr.

Wenn ihr etwas ganz genau studiert und sehr viel Zeit dafür verwendet, prägt sich das ganz stark ins Innere ein, ins innere Erinnern, ins Gefühl. Nehmt ein neues Blatt, schließt die Augen und versucht es noch einmal so genau wie möglich blind zu zeichnen, mit sehr sensiblen Linien. Ihr werdet staunen, wie viel ihr euch gemerkt habt und wie frei diese Linien sind. Das ist die zweite Möglichkeit für einen weiteren Schritt in die Abstraktion hinein. Aus dieser Übung des genauen Naturstudiums und dieser freien Blindzeichnung, die ihr versucht so genau wie möglich nachzuvollziehen, könnt ihr auch eigene Formen entwickeln, die euer weiteres künstlerischen Schaffen neu beleben, wenn ihr neue Formen findet, eure Formen. Eure Handschrift, eine ganz persönliche Handschrift.
Das Studium der Natur macht euch auch ein Geschenk. Um in der Naturstudie und in der Kunst etwas genau und schön machen, müsst ihr die Zeit hinter euch lassen. Euch Zeit nehmen, wie es die Sache braucht. Wenn ihr euch langsam hineinvertieft und euch konzentriert, seid ihr außerhalb der Zeit. Weil ihr ganz im Moment sein müsst. Das ist eine außerordentliche Erfahrung, die ihr geschenkt bekommt. Dass ihr losgelöst seid von diesem Stress des Alltags. Dass ihr versunken seid in die wunderbaren Linien, die euch die Natur in den Zeichenstift einflüstert.

Und dass ihr in der Zeit schwebt, dass ihr leicht werdet, dass ihr losgelöst seid, dass ihr vollkommen außerhalb dieser Alltagsrealität seid. Das zweite Geschenk, das damit einhergeht, ist, dass ihr ein tiefes Verständnis für das Wesen der Pflanze, für das Wesen dieses Stücks Natur entwickelt, das ihr euch vorgenommen habt. Wenn es auch eine einfache Form ist. Über das Zeichnen teilt sich euch ein tiefes Verständnis über das Wesen mit, über das innere Wesen. Und ihr werdet feststellen, dass jeder Baum, jede Blüte, jedes Blatt, jeder Stein, jedes Tier, jeder Vogel, jede Mücke, was immer ihr findet, aber vor allem scheinbar statische Dinge, wie eben Pflanzen, die ja an einem Ort angewurzelt sind, ein einzigartiges Wesen in sich tragen.

Und es wird der Einblick in das Leben, in die Schöpfung, wieder eine Spur tiefer sein. Das ist der Lohn, der auf euch wartet, der bereitsteht, für das, dass ihr euch der Naturstudie und deren Abstrahierung widmet. Ich wünsche euch sehr schöne Forschungsergebnisse und sehr schöne, ergiebige Momente des Zeichnens!