Metamorphosen und Transformationen – Geheimnisse

Wenn wir uns mit dem Thema Metamorphosen und Transformationen beschäftigen, gilt es zwei grundlegende Voraussetzungen in der Zeichnung zu beachten. Die erste ist die Freiheit der Fantasie, die keine Zensur brauchen kann. Darf ich das, soll ich das, kann ich das? Das sind Fragen, die euch nicht beschäftigen sollen. Egal, welche Idee euch ins Hirn oder in den Stift springt, führt diese Idee sofort aus. Das ist eine ungeahnte Quelle von neuen Möglichkeiten, die ihr noch nicht kennt.

Es ist wichtig, dass ihr euch diese Freiheit in jedem Augenblick des Gestaltens zugesteht. Dass ihr euch bewusstwerdet, dass sie Teil des Konzeptes für die fantasievollen Neugebilde ist, die dieses Thema so reizvoll machen. Die zweite, genauso grundangelegte Tatsache in diesem Thema ist, dass jede Zeichnung geheimnisvoll ist. Da wir unsere Einfälle vorher nicht kennen – und selbst wenn wir vielleicht schon eine Idee dazu haben, schwingt immer das Geheimnisvolle mit, das Unerklärbare.
Diese Art von Geheimnis setzt auch die Freiheit voraus, von der ich zuvor gesprochen habe. Diese beiden Begriffe, eure Freiheit in der Fantasie und im Augenblick und das damit verbundene Geheimnis, das sich darin offenbart, sind für die kommenden Impulse unbedingt zu respektieren und hoch einzuschätzen. Sie sind das Ausgangsmaterial, eure innere Einstellung zum Thema.

Als Beginn dieser Impulse möchte ich euch folgendes vorschlagen, um euch von der Alltagslogik zu lösen und von all dem, was euch im Kopf herumschwirrt, das natürlich oft sehr klug, aber sehr oft auch hemmend ist. Ich möchte euch dazu einladen, ganz intuitiv zu arbeiten, ganz auf euer Gefühl einzugehen. Die Analyse kommt später, das Nachdenken über die Konzepte, die man entwickelt. Das ist ein weiterer Schritt, aber zunächst geht ihr die Dinge ganz intuitiv an. Das setzt voraus, dass ihr euch in eurem Körper in einem gewissen Grad der Entspannung und des Loslassens befindet. Dabei hilft euch eure Atmung. Das bewusste Ein- und Ausatmen auf dem Platz, den ihr euch fürs Zeichnen gerichtet habt, das bewusste Hinsetzen zu eurem Zeichenplatz und das Euch-Selbst-Wahrnehmen. Überhaupt ist der Beginn der Zeichnung ihr selbst. Also ihr selbst seid im Fokus, weil ihr selbst von euch genau wisst, wie sich Dinge anfühlen.

Wir beginnen daher mit zwei widerstrebenden oder möglicherweise auch gegensätzlichen inneren Befindlichkeiten, die man vielleicht, wenn es ganz extrem ist, mit Zerrissenheit beschreiben könnte oder mit einem „sowohl – als auch“ oder einem „entweder – oder“. Also ein ambivalentes Gefühl. Jeder kennt im Leben, vielleicht aus der jüngsten Vergangenheit, vielleicht aus einer aktuellen Situation oder vielleicht liegt es auch länger zurück, dieses Gefühl, dass man nicht genau weiß, soll man es so oder so tun?

Eine Situation, die sowohl als auch ihre Reize hat, die eine Möglichkeit wie auch die andere, oder die Probleme birgt, oder gegensätzliche Einstellungen in euch verursacht. Und aus dieser Situation müsst ihr einen Faden spinnen, der so etwas wie eine Entscheidung, oder ein Kompromiss oder ein Neugebilde ist. Etwas, das ihr noch nicht kennt, wozu ihr euch durchringen müsst. Wie geht ihr das an? Ihr atmet zuerst gut durch. Dann nehmt ihr ein Blatt und einen Bleistift und ihr folgt dem Impuls von dieser Situation. Ihr macht euch also in der Atmung beide Möglichkeiten dieser Situation gegenwärtig, die beide ein durchaus unterschiedliches Gefühl in euch bedeuten. Das ist das Wesen dieser komplexen Möglichkeiten, die man manchmal im Leben vorfindet und die einer Entscheidung oder einer Integration von zwei scheinbar widersprüchlichen Gefühlen bedürfen.

Versucht in eurem Spüren eine Emotion zu finden, die ihr gut kennt. Verlegt euch dann in die Situation hinein, die euch zunächst näher oder stärker erscheint oder die sich euch vielleicht zuerst aufdrängt. Ihr spürt hinein und aus diesem Impuls heraus nehmt ihr den Bleistift und macht ein Zeichen. Einen Strich, einen Kritzler, etwas, von dem ihr merkt, es will als Impuls aus euch heraus. Dieser Impuls, diese Form wiederholt sich. Immer dieselbe Handbewegung. Wie immer diese Emotion aussieht, ihr lasst dieselbe Handbewegung in den Bleistift fließen und werft sie sozusagen auf das Blatt hin.

Ihr könnt auch Ölkreide verwenden. Wichtig ist, dass ihr diesem Gefühl einen Ausdruck verleiht, in diesem Impuls, den ihr immer wieder wiederholt. Das soll nicht mechanisch werden, sondern sehr bewusst. Bleibt in diesem Gefühl und wiederholt diesen aus dieser Emotion geborenen Impuls im Zeichnen. Es entsteht einfach. Ihr wisst im Vorhinein noch nicht, wie das wird. Aber es wird. Am besten ist es, wenn die Augen geschlossen bleiben und nur der Impuls arbeitet. Und irgendwann kommt das Gefühl, dass ihr diesen Impuls und die Intensität dieser Gefühlsbefindlichkeit abgearbeitet habt. Dann öffnet ihr die Augen und schaut. Kein Urteil. Ihr stellt nur fest: Ist es kräftig, ist es zart? Ist es ganz verstreut oder kumuliert es an einer Stelle? Hat sich eine Form gebildet? Das stellt ihr nur fest, ohne es zu bewerten.

Dann nehmt ihr ein neues Blatt Papier, schließt wieder die Augen und verlegt euch im Gefühl auf die andere Seite der Möglichkeiten. Auf das „oder“, auf das „als auch“, auf die widersprüchliche oder entgegengesetzte andere Seite, die euch als Möglichkeit dieser Situation zur Verfügung steht. Atmet gut ein und spürt diesem Gefühl nach. Entwickelt es in euch, sodass ihr euch wirklich tief einfühlt. Auch da entsteht wieder ein Impuls und der kann diesmal ganz anders sein.

Weil es eben auch ein ganz anderes Gefühl ist, ist es eine andere Richtung, eine andere Handbewegung. Nehmt den Bleistift und gebt auch diesem Impuls einen Ausdruck. Der kann zart sein, kräftig, rund, eckig, spitz, gerade, wie auch immer. Es bleibt ganz in diesem neuen, anderen, entgegengesetzten Gefühl. Konzentriert euch nur auf diese Seite eurer Sichtweise zu der Tatsache oder der Situation, die euch bewegt. Ihr könnt über das ganze Blatt fahren oder nur auf einem Platz sein, ihr könnt zart oder sehr kräftig sein. Aber in jedem Fall wiederholt ihr diesen Impuls immer in derselben Version, so dass er ganz stark wird und die Emotion sichtbar ist. So lange, bis auch dieser Impuls abgearbeitet ist.

Erst dann öffnet ihr die Augen und schaut und werdet feststellen: Es schaut ähnlich aus, oder es sieht ganz anders aus, oder es gibt eine Übereinstimmung oder es sind zwei extreme Pole. Das ist fantastisch, es ist ein Wunder vor euren Augen. Ein Geheimnis offenbart sich darin, wie diese zwei gegensätzlichen Situationen sich in eurem Inneren einen Ausdruck verleihen.

Es kann sein, dass dieses Zeichen für den einen Impuls und das Zeichen für den anderen Impuls so interessant ist, dass ihr sie auf einem neuen Blatt nur einmal sprechen lassen möchtet. Dann schließt ihr die Augen, legt ein Zeichen der einen Seite auf eurem Blatt, schaut nicht, was passiert ist, atmet nur durch, verlegt euch auf die andere Seite eurer inneren Situation, nehmt diesen Impuls auf und legt auch ihn auf das Blatt. Nur einmal. Wenn ihr dann die Augen öffnet, seht ihr eine vollkommen abstrakte, interessante Situation, die ihr sehenden Auges wahrscheinlich nicht hättet kreieren können.

Damit habt ihr schon einige Energie in dieser inneren Auseinandersetzung abgearbeitet und könnt nun euren Körper aus dem Inneren, aus dem geschlossenen Auge ausformulieren und ihn in die eine Richtung verändern und in die andere.

Wenn euch das zu schwierig erscheint, könnt ihr mit einer anderen Übung beginnen: Legt eure Hand auf das Zeichenblatt und nehmt einen Abdruck davon. Dann könnt ihr mit diesen Elementen, die ihr aus der vorigen Situation – oder vielleicht fällt euch eine neue ein – entwickelt habt, etwas aus den Fingerspitzen herauswachsen lassen. Linien, Impulslinien, die aus euch hinauswollen, tätig werden wollen. Wenn ihr das mit der rechten und der linken Hand macht und die beiden zusammenstoßen, könnt ihr ein vollkommen neues Gebilde finden, das sich zwischen den zwei Händen bildet, das aus der linken Hand und aus der rechten hinausströmt.

Das gleiche könnt ihr mit den Fußabdrücken machen. Ihr könnt auch versuchen, was auch euren Knien sprießt, aus eurem Ellbogen, aus eurem Kopf, aus eurem Nacken, aus euren Schultern. Je nachdem, wie viel Zeit und Lust und Interesse ihr habt, könnt ihr schauen, was sich aus den einzelnen Körperstellen entwickelt. Das können abstrakte Gebilde sein, das können realistische Formen sein. Das kann sogar der ganze Körper sein, der sich in etwas anderes verändert, das ihr noch nicht kennt, aber euch einlädt, es zu versuchen. Das muss kein realistischer Körper sein, es reicht schon ein Strichmännchen, für die, die erst am Anfang der Zeichenmöglichkeiten stehen.
Wenn sich aus diesem Impuls der zwei entgegengesetzten Sowohl-Als-Auch-Gefühle Formen entwickelt haben, schaut euch diese Formen genau an, die eine wie die andere und spielt mit diesen Formen, entwickelt sie weiter. Lasst euch von dem inspirieren, was dabei entstanden ist. Nehmt diese Zeichen auf und formt sie weiter.

Denkt an die Freiheit eurer Fantasie. Der Impuls, der im Augenblick da ist, den nehmt ihr auf, den lässt ihr frei werden, den lässt ihr sich lustvoll über das Blatt ausbreiten. Sodass sich euch die Geheimnisse erschließen, die in euch wohnen. Seid neugierig, seid sensibel, seid behutsam, seid aufmerksam, und vor allem habt viel Spaß!

Ich wünsch euch sehr, sehr schöne Ergebnisse!