Waldspaziergang

Diesmal gibt es wieder zwei Aufgaben, die miteinander verbunden sind. Dazu bitte ich euch, dass ihr in die Natur hinausgeht. Spazieren geht. Mit offenen Augen. Die erste Aufgabe ist, dass ihr euch Blätter und andere Pflanzenteile aus der Wiese oder vom Wegrand sucht, die ihr mit heimnehmt, um sie zu pressen. Es können auch Gräser sein, oder zarte Blüten, nur keine zu dickfleischigen Pflanzen. Legt diese Blätter flach zwischen Zeitungsblätter oder Küchenrollen, die nehmen die Feuchtigkeit besonders gut auf. Die Blätter berühren sich dabei gegenseitig nicht, lasst viel Platz zum Pressen. Wenn ihr alle gesammelten Pflanzen so vorbereitet habt, beschwert sie gut, damit sie plattgedrückt werden. Das dauert einige Tage.

Die Sammeltätigkeit hat schon sehr früh in der Menschheitsgeschichte begonnen. Dieses Sammeln heute hat damit zu tun, dass ihr nur etwas nehmt, was euer Auge anzieht. Dass ihr euch von Sammelobjekt zu Sammelobjekt verliebt. Dass ihr sagt: „Oh, das ist schön.“ oder: „Ah, das ist auch schön, das habe ich so noch nicht wahrgenommen.“ Mit diesem Entdeckerauge, mit diesem Staunen, geht ihr heute, um eure Blätter zu sammeln. Diese gepressten Blätter braucht ihr für einen späteren Impuls, aber die Vorbereitung ist jetzt nötig.

Die zweite Aufgabe ist der Blick in die Bäume beim Gehen im Wald, in der Natur. Versucht euch dann zeichnerisch an einem Baum. Ihr könnt einen ganzen Wald zeichnen, oder ein Waldstück oder einen ganzen Baum. Worauf kommt es an? Zuerst auch hier: Schaut, ob der Baum oder das Waldstück eurer Zuneigung entspricht. Ob ihr sagt: „Ah, das ist schön, das mag ich, das gefällt mir.“ Und: „Das stelle ich mir vor, dass ich das auch schaffe.“ Mit dieser Einstellung geht ihr an die Zeichnung heran.
Der Blick auf das Objekt Baum geschieht dann folgendermaßen: Ihr haltet eure Augen parallel und ganz ruhig. Vielleicht zieht ihr die Lider ein bisschen zusammen und sperrt das viele Licht ein bisschen weg. Schaut ganz genau auf die Kontur des Baumes. Erst danach schaut ihr auf das Innere des Baumes. Wo blitzt das Licht durch? Dort, wo es nicht durchblitzt, sind viele Kumulierungen von Blättern oder Nadeln, je nachdem, welchen Baum ihr euch auswählt. Ihr schaut. Oder fotografiert. Vielleicht findet ihr einem Platz zum Sitzen. Eine Zeichnung eines Baums und eine Zeichnung von einem Wald sind ein bisschen unterschiedlich. Ein Wald zeichnet sich immer auch durch die Stämme aus. Die sind in der Zeichnung parallele Linien, die schwingen. Aber bei beiden schaut ihr, wie ihr mit kleinen Elementen diese Verdichtung der Blätter oder Nadeln zart anzeichnen könnt.

Ihr habt die Wahl, ob ihr im Wald selbst einen Platz findet, um zu zeichnen oder ob ihr Fotos anfertigt und euch an euren Zeichenplatz zu Hause setzt. Jedenfalls zu Beginn eurer Zeichnung gebt ihr euch ein Feld vor. Ein kleines Rechteck oder Quadrat, auf dem Blatt, denn ein Baum ist jedenfalls viel größer als ein Zeichenblatt. Damit ihr euch nicht verliert, ist es besser, erstmal in einem kleinen Feld zu arbeiten.
Versucht, den Baum von außen her in seiner Größe festzulegen. Eben, indem ihr ein Quadrat oder Rechteck zeichnet. Innerhalb dieses Rechtecks zeichnet ihr dann zart die Kontur an. Bei Caspar David Friedrich kann man schön sehen, wie er das bei den Nadelbäumen mit einem Dreieck macht. Bei einem großen Laubbaum ist es eine andere Form. Also, zuerst einmal eine Kontur festlegen, ganz zart.

So, dass ihr euch eine visuelle Orientierung innerhalb dieses Geschehens gebt. Dann arbeitet ihr diese Kontur mit kleinen Elementen heraus. Mit diesen markiert ihr immer wieder die Kontur. Seien es Striche, oder kleine Blättchen, oder Wellenlinien, oder kleine Krixeln. Die wiederholen sich dann für den ganzen Aufbau des Blattwerks innerhalb des Baumes. Ihr müsst euch den Baum oder das Waldstück genau anschauen. Wo findet was statt, wo nicht? Wo kumuliert es? Wo bricht Licht durch?
Erst am Ende kommen der Stamm oder Teile eines Astes, mit zwei parallelen Linien. Dafür spielt es eine große Rolle, was sich in eurer Zeichnung abspielt. Das Bild von außen ist eine Anregung, aber die Logik entwickelt sich aus der Zeichnung heraus. Darauf geht ihr ein. Diese Übung kostet eine kleine Überwindung, weil es viel Arbeit erscheint. Aber es ist sehr lohnend.

Denn ihr werdet sehr viel Information über das Wesen des Baumes aus der Zeichnung erhalten. Ein Baum hat so viele gute Funktionen für uns. Er ist ein Wunder. Er gibt permanent Sauerstoff ab. Die Luft, die wir brauchen, um zu atmen. Im Sommer gibt er die Kühle, den Schatten. Ich habe mir vorgestellt, wenn jeder in der Welt einen Baum pflanzen würde, würde sich das Klima schon ein bisschen ändern. Bäume sind in sich selbst wie ein Universum.

Für alle möglichen Tiere, für andere Pflanzen, die sich einnisten und darin leben können. Auf den Nadelbäumen sind es die Moose und Flechten. Auf den Laubbäumen auch Efeu, Misteln und Moose. Es nisten Vögel, es gibt Eichhörnchen und unzählige andere Tiere, die in einem Baum wohnen oder sich davon ernähren. Von einer Eberesche, die im Herbst die roten Vogelbeeren trägt, ist sie ein Baum, von dem sich über fünfzig Vogelarten ernähren können. So fantastisch ist das Wesen Baum!
Wenn es euch überfordert, dann studiert nur ein Blatt oder ein Ästchen. Schon aus dem Studium der kleinen Blättchen lässt sich viel herauslesen. Wie es dann auch im Großen ist und wie es zeichnerisch funktioniert. Genießt dieses Schauen auf den Baum. Genießt und werdet euch bewusst, was für ein Wunder der Baum ist.

Atmet die Luft bewusst, die dieser Baum erzeugt. Ihr könnt ihn auch umarmen und die Energie spüren. Erfährt das Wunder Baum mit allen Sinnen. Vielleicht duftet der Baum. Vielleicht hört ihr etwas im Baum. Vielleicht rauscht er. Wie fühlt er sich an? Wie sieht er aus? Nehmt alle Phänomene wahr. Es ist ein Geschenk. Ein Geschenk, das ihr euch selbst schenken könnt.

Wie immer: Setzt euch gut hin. An den Tisch, der für eure Zeichenarbeit euer Zeichentisch ist oder im Wald. Habt einen schönen Zeichenerfolg!