Im Wald
Jedem Anfang wohnt ein Zauber inne. Es hat tatsächlich eine wunderbare Energie, etwas neu zu beginnen. Wiederum einen Abschnitt, ein Thema, eine Idee neu zu beginnen, etwas, das noch nicht da war. Das hat eine große Kraft, dieses Neue, das noch nie Dagewesene und damit beginnen wir heute. Wir sind jetzt in dieser wunderbaren Jahreszeit Herbst. Die verfärbten Blätter sind vielleicht schon in großer Zahl zu Boden gegangen, und dennoch ist der Herbst eine Pracht.
Vielleicht ist schon der Schnee in der Luft und man riecht ihn förmlich. Was tut die Natur im Herbst? Diese zieht sich zurück. Sie wirft alles Alte ab, um die Säfte ruhig zu stellen, nach innen zu gehen und neue Kräfte aufzubauen, die dann im Winter vollkommen ruhen und im Frühjahr neu sprießen. Der Herbst ist aber auch eine Zeit der Ernte. Man kann sogar noch im Spätherbst ganz viele Beeren ernten. Die letzten Blumen blühen auch noch.
Die vielen Früchte, die zu Beginn des Herbstes geerntet werden können, sind jetzt vielleicht schon eingelagert und halten sich für uns bereit, damit wir gut durch den Winter kommen. Der Herbst ist auch eine Zeit, in der wir Reduktion erfahren. Auch im Hinblick auf die Zeichnung. Sich zu reduzieren hat eine große Kraft. Der Erfolg, wenn man sich reduziert, ist, dass man in die Tiefe kommt. Im Persönlichen kommt man in die Tiefe des eigenen Inneren. Im Zeichnen verstärkt sich der Ausdruck. Je mehr ich reduziere, desto stärker wird meist der Ausdruck. Mit diesem Gedanken möchte ich diesmal starten.
Wie startet man gut ins Zeichnen? Immer dann, wenn man alles, was einen umgibt, loslässt. So wie der Baum die Blätter loslässt, so müssen wir lästige Gedanken, Sorgen, Kümmernisse und Gedanken an Arbeit oder Ereignisse loslassen, um zu uns selbst zu kommen, um zum guten Zeichnen zu kommen. Dieses Loslassen ist das erste Thema.
Wie geht das Loslassen? Streckt euch gut durch, bewegt euch und atmet tief durch, sodass ihr eine gute Position beim Zeichnen einnehmt. Bereitet euch einen guten Arbeitsplatz. Egal, wo ihr seid, ob das im eigenen Atelier ist oder ob es am Küchentisch oder am Schreibtisch ist. Die Zeit, in der ihr zum Zeichnen hingeht, ist auch vom Ort her ganz dem Zeichnen vorbehalten. Ordnet euch zum Zeichnen. Dann bereitet ihr euch für diesen Start eine Musik vor, die euch an eine Herbststimmung erinnert. Es gibt wunderbare Musik dazu.
Die vier Jahreszeiten sind das berühmteste Beispiel zum Thema Herbst. Aber es gibt auch andere. Nehmt euch also eine Musik, die euch beflügelt, die euch gut in eine andere Stimmung bringt als ihr jetzt gerade vielleicht seid, mit der ihr aus diesem Alltag herauskommt. Ihr bereitet euch Zeichenblätter und einen gespitzten Bleistift vor. Und dann schließt ihr die Augen und zeichnet nach der Musik. Ihr vergesst euren Willen, ihr vergesst euer Wollen, eure Sorge, ob eine Form entstehen soll oder was ihr zeichnen sollt.
Stattdessen lässt ihr den Bleistift frei fließen, mit der einzigen Konzentration auf die Spitze des Bleistiftes. Wie berührt der Stift das Blatt? Nur dieser Augenblick, dieses Berühren der Bleistiftspitze mit dem Zeichenblatt ist jetzt das Essentielle. Das absolut Wichtigste. Dann könnt ihr euch entscheiden, in diesem Fließen des Bleistiftes mit der Musik – sind es kurze Zeichen, lange Zeichen, punktuelle Zeichen, Verdichtungen – wie stark ihr mit dem Bleistift aufdrückt.
Das könnt ihr jeden Moment ändern. Ihr könnt fließend ins Zarte kommen, und fließend ins Kräftige. Ihr könnt viele zarte Striche machen und ihr könnt viele dunkle Striche machen. Das geht gut mit diesem Schwung, mit diesem Fließen mit der Musik einher. Dieses Gefühl, vertraut zu werden mit diesem Zeichnen und diesem Ganz-im-Moment-sein, mit dem Fluss des Zeichnens, mit ihm eins zu werden, das ist eure erste Aufgabe. Wenn es euch gefällt, macht ihr mehrere Blätter.
Wenn ihr merkt, ihr seid mechanisch, nehmt ihr eure andere Hand und schließt die Augen. Wenn ihr merkt, die Linien sind viel zu zart, dann müsst ihr eben kräftiger andrücken. Und wenn ihr sagt: „Ja, das ist jetzt ein gelungenes Blatt, das macht mir Spaß“, dann macht noch eines. So könnt ihr euch selbst stimulieren und zu einem weiteren Blatt motivieren. Schreibt euch auf, mit welcher Musik ihr gezeichnet habt und welche Stelle euch gefallen hat. Vielleicht geht es auch, dass ihr euch eine bestimmte Herbststimmung vorstellt.
Einen Herbststurm, oder einen lauen Herbsttag im Weingarten, oder eine klare Herbststimmung auf den Bergen, oder eine nebelige Situation, die euch nur schemenhaft die Formen der Landschaft preisgibt. Es fallen euch sicher noch viele andere ein. Jedenfalls eine Herbststimmung. Das ist der Einstieg in diese Zeicheneinheit.
Die zweite Aufgabe ist eine konkretere. Ich möchte euch in den Wald entführen. Ich möchte gerne, dass ihr ein Blatt nehmt, ob es hoch- oder querformatig ist, das entscheidet ihr selbst. Aber ihr macht von oben bis unten, also vom oberen bis zum unteren Rand, schmale senkrechte rechteckige Flächen, die Baumstämme sind – sehr abstrahierte Baumstämme. Diese rechteckigen Flächen macht ihr dicht.
Ihr könnt sie dünner oder etwas breiter machen. Ihr könnt sie sehr dunkel machen, weil sie in eurer Vorstellung weiter vorne sind. Oder ihr könnt sie zart machen, ganz zart und noch viel zarter, diese sind weiter hinten. Das ergibt eine räumliche Vorstellung. Die Flächen haben alle dieselbe Länge. Sie unterscheiden sich in der Stärke des Grauwertes und in der Breite der Flächen. Diese Übung ist eine scheinbar einfache.
Ich möchte gerne, dass ihr sie so einfach hält, wie sie klingt. Das Einzige ist, und das ist die Herausforderung, dass plötzlich irgendwann das Weiß des Blattes Teil des Bildgeschehens wird. Plötzlich bricht zwischen diesen langen schmalen Elementen Licht hindurch. Es ist nicht mehr Weiß, es wird zu Licht.
Ich möchte also gerne, dass ihr eine flächige Zeichnung anlegt, mit ganz simplen geometrischen Elementen von oben nach unten, die nichts anderes tun als im Grauwert, in der Stärke zu changieren. Manche sind breiter, manche sind schmäler. Manche sind enger zusammen, manche weiter auseinander. Die Art der Komposition bestimmt ihr. Das ist eine Stimmungsaufgabe für eine flächige Zeichnung.
Als dritte Zeichnung könnt ihr noch einen Wald mit diesen rechteckigen Stämmen, diesen Formelementen, probieren. Heller und dunkler, weiter auseinander, näher zusammen. Dann versucht ihr, mit ganz gespitztem Bleistift ein paar Linien hineinzugeben, die aus der Beobachtung von Ästen kommen. Äste können sehr unterschiedlich sein – sie sind leicht gebogen oder sehr gekrümmt, je nachdem.
Macht ein paar wenige dünne Linien, die in der Stärke und auch in der Länge variieren. Nicht willentlich eine Linie biegen, sondern dem inneren Fluss folgen, der inneren Stimmung folgen, dem Augenblick folgen. Es ist kein Wille sichtbar. Aber was passiert in dieser dritten Variante eurer Zeichnung? Mit diesen Stämmen ist es eine geometrische Aufgabe und die Linien – so zart sie auch sein mögen – sind vitale Elemente, die sich ganz anders bewegen dürfen als die Stämme es tun.
Ich wünsch euch sehr, sehr viel Muße! Ich wünsche euch, dass ihr Zeit habt hinauszugehen in die Natur, um sie ganz bewusst wahrzunehmen. Vielleicht gibt es sogar einen Wald in eurer Nähe.
Alles Liebe!