Blick aus dem Fenster

Geometrische und vitale Formen im Verhältnis zueinander

Im Winter verbringen wir viel Zeit in Innenräumen. Vielleicht sind die Tage grau, manchmal schimmert das Blau ein bisschen durch den Nebel und es stimmt uns hoffnungsfroh, einmal etwas mehr Licht zu sehen. Daraus leite ich eine Aufgabe ab, die mit etwas zu tun hat, das wir eigentlich täglich tun, ohne darüber nachzudenken. Es gehört zu unseren normalen Dingen, die wir tun, ohne dass wir uns über ihre ästhetischen Möglichkeiten bewusst werden. Nämlich: der Blick aus dem Fenster.

Ich möchte euch dazu anregen, einen Blick aus einem eurer Fenster zu werfen. Dieses Fenster kann leer sein, am Fensterbrett ist gar nichts, also es ist nur das Fenster und der Blick nach draußen. Oder es sind irgendwelche Gegenstände am Fensterbrett; Blumentöpfe, Ziergegenstände, Vasen, Kerzenleuchter, Karten, kleine Skulpturen, Steine, Schneckenhäuser, was auch immer es ist. Ihr lasst es einfach so stehen, ihr verändert nichts. Ihr werdet euch gewahr, wie euer Fenster aussieht, von innen nach außen. Es ist wie ein Stillleben, das man am Fensterbrett hat.

Wenn dort nichts ist, dann ist es nur der Blick auf das Fenster selbst. Das Fenster hat eine geometrische Form. Außer ihr habt sehr amorphe Fensterformen, die es selten auch gibt, wovon ich aber nicht ausgehe. Ihr studiert also diese geometrische Form mit den Linien. Schaut das Fenster genau an. Hat es eine einzige Glasscheibe oder ist sie unterteilt? Wie sieht der Rahmen aus? Wie kann man das Fenster öffnen? Kann man es öffnen oder ist es gar nicht zu öffnen? Wo sind Schnallen und Griffe, um das Fenster zu öffnen? Wie sind die Scharniere, wo das Fenster eingehängt ist? Vielleicht gibt es eine Vertiefung, je nachdem wie alt das Gebäude ist. Gebäude aus früheren Jahrhunderten haben meist sehr dicke Gemäuer und die Fenster liegen dann tief in der Nische. Studiert das Fenster ganz genau. Ist es ein Holzfenster, oder ist es ein Alu- oder ein Kunststofffenster? Hat der Rahmen eine bestimmte Farbe? Wie sind die Abstände zueinander, wie sind die Verhältnisse zueinander? Wie sieht das Fensterbrett aus?

Wenn ihr ein leeres Fenster studiert und nichts auf dem Fensterbrett ist, interessiert euch zunächst einmal nur die Form. Die Form des Fensters mit dem Rahmen. Und in welchem Größenverhältnis ihr diese Fensterform auf das Blatt setzt.
Im zweiten Schritt zeichnet ihr das Fenster in einer leicht geöffneten Version. Entweder ist es gekippt oder es öffnet sich ganz leicht im Flügel.
Die dritte Herausforderung beim leeren Fenster ist, etwas zu integrieren, das was man draußen sieht. Also, ihr studiert euer Fenster und das, was ihr draußen sehen könnt. Sind das Bäume, oder ist ein Garten, sind es Büsche, oder ist es die Straße, sind es andere Häuser, die gegenüber liegen, oder nur der Himmel. Etwas von dem was ihr seht, könnt ihr integrieren. Ihr zeichnet also das Fenster linear mit vibrierenden Linien, drückt den gespitzten Bleistift etwas stärker und schwächer an. Und diese Linearität, verwendet ihr in der derselben Weise auch für die vitalen Formen. Ihr studiert diese vitalen Formen rein linear, das bedeutet, dass ihr die Konturen dieser Formen zeichnerisch aufnehmt. Dabei ist das Studium dieser vitalen Formen nicht streng realistisch. Versucht diese vitalen Formen zu erspüren und frei linear zu zeichnen. Versucht nicht zu radieren, um es „besser“ zu machen. Last die Formen einfach entstehen. Nicht wischen, kritzeln oder strichlieren oder eine Fläche füllen wollen, sondern bleibt rein linear.

Dabei entsteht eine schöne Komposition der geometrischen Form des Fensters im Dialog mit den vitalen Formen der Umgebung. Wenn ihr nur die reinen Linien zeichnet, wird die Zeichnung sehr viel abstrakter, sehr viel reduzierter, sehr viel nuancierter. Aber auch klarer, sodass ihr im Ausdruck wirklich eine schöne klare und zugleich unerwartete Aussage finden könnt. Das ist das Ziel, diese klaren Linien.

Mit dem Blick aus dem Fenster schafft ihr mit diesen klaren Linien Klarheit. Ihr verschafft dem Betrachter Klarheit und vielleicht auch euch selbst. Das ist eine sehr angenehme Situation. Dieser Blick von innen nach außen setzt voraus, dass ihr zunächst einmal bei euch ankommt. Ihr könnt in die Welt nur von eurem Standpunkt aus hinausschauen. Von eurem inneren Bewusstsein. Von eurem inneren Wesen her. Und dieses innere Wesen ist etwas, das ihr selbst erforscht, spürt und wahrnehmt. Und diese Wahrnehmung, wie ihr verfasst seid, wie ihr den Blick von innen nach außen richtet, durch euer Fenster, was ihr dabei bemerkt, was ihr vielleicht neu entdeckt oder so noch nie gesehen habt, oder wofür ihr noch nie so viel Zeit verwendet habt, um es genau anzuschauen, das ist die heutige Aufgabe. Dieses Schauen von innen nach außen, in dem Fall das aus-dem-Fenster-Schauen.

Ich wünsche euch, dass ihr die Muse habt und ihr euch in einer besonderen, guten Verfasstheit zur Zeichnung begebt. Euch gut darauf vorbereitet, die Sorgen vorher abschüttelt und die ganze Anspannung oder innere Unruhe, die euch vielleicht begleitet. All das könnt ihr im Moment des Zeichnens nicht brauchen, auch wenn ihr es bemerkt und wahrnehmt. Das ist in Ordnung. Aber versucht nicht in dieser Unruhe oder in dieser Verfasstheit eine gute Zeichnung zu machen. Sondern atmet tief durch, kommt ganz zu euch, seid ganz bei euch. Dieser Moment ist ein sehr friedvoller, ein sehr, sehr friedvoller. Diese Momente brauchen wir zum Zeichnen und diese Momente führen unmittelbar ins Glück.

Ich wünsche euch gutes Gelingen bei dieser Zeichnung mit dem Blick aus dem Fenster von innen nach außen!