Blickwinkel

Den eigenen Blick in eine neue Perspektive bringen

Ich möchte heute ein weiteres Feld fürs Zeichnen erschließen: den eigenen Blickwinkel. Dieser eigene Blickwinkel, den jeder Mensch in sich trägt, ist eine Gewohnheit, etwas Unbewusstes. Beim Zeichnen schauen wir auf Gegenstände und Dinge und versuchen sie dann in der Zeichnung entsprechend zu lösen. Und da ist es sehr, sehr gut, einmal den Blickwinkel zu ändern. Die Perspektive zu ändern. Die Dinge von einem anderen Winkel aus zu betrachten.

Ihr nehmt also einen Platz ein, wo ihr garantiert einen gewohnten Blick habt. Ein Blick auf euer Bücherregal. Ein Blick von eurem Balkon. Ein Blick auf euren Frühstückstisch oder Arbeitstisch. Ein Blick auf das, was euch im Garten umgibt, auf einen Baum, eine Blume. Ihr habt vielleicht einen angestammten Platz, auf dem ihr oft und gerne sitzt und so einen wählt ihr. Einen Platz, den ihr wirklich gerne habt.

Von diesem Platz aus schaut ihr. Dann nehmt ihr eure Kamera oder euer Handy und verlängert damit den Blickwinkel eurer Augen. Ihr könnt zum Beispiel etwas heranzoomen und dadurch vergrößern. Oder das Blickfeld schwenken. Das soll eine kleine Anregung sein. Wenn ihr nur einen kleinen Ausschnitt nehmt, den ihr vergrößert, ergibt sich durch dieses Hineinzoomen ein interessanter Ausschnitt für euer Bild. Ihr könnt also einen Ausschnitt in eurem Blickfeld vergrößern, oder ihr schaut etwas von unten an. Etwas, wo ihr den Kopf heben müsst. Zum Beispiel einen Baum von unten. Besonders schön ist das im Wald, wo man dann nur die Kronen und wie sie zueinanderstehen, sieht, und sie euer Bild dadurch einrahmen, während in der Mitte der Himmel zu sehen ist. Oder ihr könnt auf Blüten schauen und dabei nur einen bestimmten Rand oder ein Blütenblatt fokussieren. Oder ihr geht zu einer Treppe, schaut sie an und verändert euren Blickwinkel und nehmt die Treppe dadurch plötzlich ganz anders wahr. Oder ihr habt eine Sitzgelegenheit im Garten, wo ihr die warmen Sonnenstrahlen genießt. Dann geht ihr um diese Sitzgelegenheit herum und schaut sie euch an. Oder ihr nehmt euch eure Kamera und fotografiert sie damit von unten. Und plötzlich habt ihr eine ganz andere Perspektive eingenommen. Es kann auch euer Haus, euer Balkon, ein Tisch, ein Glas, oder ein beliebiger anderer Gegenstand sein. Erfasst ihn von einem ganz anderen Blickwinkel aus und macht ihn euch zeichnerisch selber zum Thema.

Was sehr oft dabei hilft, den Blickwinkel ein bisschen zu verändern, ist der Schatten, den der Gegenstand wirft. Dieser Schatten ermöglicht euch eine verzerrte, völlig andere Sichtweise, je nach Lichteinfall.

Also spielt ein bisschen mit eurem Blickwinkel. Ihr könnt frei wählen, was ihr mit einem neuen Blickwinkel betrachtet und was ihr aus dieser neuen Perspektive gestaltet. Das ist besonders anregend, denn es ist unendlich erweiterbar. Ihr könnt mehrere Dinge von einem neuen Blickwinkel aus studieren. Ihr könnt euch auf die Fläche konzentrieren. Ihr könnt nur die Linien von der Kontur betrachten. Ihr könnt die Geometrie neu studieren, die Vielfalt der Formen. Natürlich immer mit dem größten Bewusstsein für die Bleistiftspitze und die Vibration der Linie. Ihr seid sehr frei, aber ihr nehmt alles das mit, was ihr aus den letzten Impulsen schon gelernt habt. Nehmt das mit hinein in eure eigenen Zeichenerfahrungen und in die neuen Ideen, die sich daraus erschließen.

Dieser Bewusstseinsschritt auf einen neuen Blickwinkel ist immer auch nötig, um die eigene Meinung neu zu denken. Um neue Sichtweisen auf Situationen im Leben zu bekommen. Um ein Problem, für das ihr keine Lösung findet oder eine Frage im Leben, auf die ihr keine Antwort wisst, aus einer anderen Position zu sehen. Um euch in eine andere Rolle hineinzuversetzen. Beim Zeichnen könnt ihr auch umgekehrt eine neue Rolle einnehmen, um den Blickwinkel zu verändern. Ihr könnt euch vorstellen, wie würde das jetzt ein kleines Kind sehen? Wie würde es eine Königin sehen? Ein Bauer? Ein Star, wenn euch einer einfällt? Ein Pilot, ein Stabhochspringer, ein Schwimmer? Ihr könnt euch diese Frage ein bisschen zur Seite nehmen und sie verwenden, um diesen neuen Blickwinkel zu öffnen. Und sehr oft ist es so, dass wenn man für eine Frage keine Lösung weiß, sich sagt: „Ok, ich zeichne mir das auf.“ Problem X ist ein Dreieck, Problem Y ist ein Kreis. Und ihr spielt mit dem Kreis, setzt die Formen auf ein Blatt und dann verändert ihr. Ihr habt das Gefühl, da fällt die Sonne rauf und wirft einen Schatten und dann treten sie in Dialog und so weiter. Also ihr könnt euch vielfältige Geschichten für diesen Blickwinkel ausdenken.

Wie immer ist die Muse etwas, was für euch sehr wichtig ist. Die Muse braucht eine gewisse Leichtigkeit, eine Form der Aufmerksamkeit, des Staunens und der liebevollen Zuwendung. Für das, dem ihr euch beim Zeichnen zuwendet, aber auch für euch selbst.

Diese Liebe für das eigene kreative Schaffen ist eine sehr wichtige Voraussetzung. Nehmt auch diese Liebe in euren neuen Blickwinkel und euer Bewusstsein auf.