Linien aus der Natur – Die Buche
Parallele Linien aus der Natur beobachtet, Realismus und Abstraktion
In diesem Impuls möchte ich mit euch einen Baum näher betrachten, und zwar die Buche. Gar nicht so sehr in ihrer großen Ausdehnung, sondern einen Blick auf den Stamm werfen, konkret die Rinde genau studieren.
Die Buche ist ein Baum, der vor allem in Nordamerika, in Europa und in Teilen Asiens vorkommt, und zwar überall dort, wo die Winter nicht zu kalt und die Sommer nicht zu heiß und vor allem nicht zu trocken sind. Buchen wachsen gerne in Mischwäldern. Und sie sind mit Sicherheit einer unserer am häufigsten vorkommenden Bäume. Die Buche ist eine sehr alte Pflanze mit einer langen Geschichte, man weiß das aufgrund von fossilen Funden. Ihre Geschichte reicht zurück bis ins Kreidezeitalter vor rund 84 bis 72 Millionen Jahren. Das war ungefähr die Zeit, in der auch die Dinosaurier gelebt haben. Mindestens so alt sind die Buchen. Sie sind Zeitzeugen aus diesen alten Zeiten. Sie haben etwas in ihrem Baumbewusstsein, das viel älter ist als das, was wir als Menschen in unserem verborgenen Bewusstsein haben.
Die Buche zeichnet sich durch ihre wunderbare Dauerhaftigkeit aus. Man schätzt auch ihren Brennwert und nutzt die Buchenscheite für den Kachelofen, diese geben das längste und beste Feuer. Die Buche ist auch als Bauholz oder als Werkholz sehr gefragt, weil ihr Holz beständig ist. Man sieht die Buche als Sinnbild des Lebens und der Lebenskraft. Sie ist einfach so ein unerschütterlicher Baum.
Der Baum selbst war für die Menschen immer ein höheres Wesen. Wie eine unsichtbare Macht, die in diesem Baum wohnt. Daher wurde die Buche über viele, viele Kulturen hinweg verehrt. Bis ins 19. Jahrhundert hinein wurde man sogar bestraft, wenn man einen solchen Baum beschädigt hat. Also, eine Buche zu beschädigen, war absolut unmöglich. In früheren Jahrhunderten wurden auch Gottesdienste unter Buchen gefeiert, weil sie wegen ihrer Erhabenheit und dem Blätterdach als natürliche Tempel angesehen wurden. Die Gottesdienste, die unter diesen Buchen-Tempeln abgehalten wurden, hatten ihren Ursprung aber schon in viel früheren Ritualen. Vorchristliche Opferstätten waren immer unter diesen wunderbaren Bäumen, die man auch die „heiligen Haine“ genannt hat.
Die großen Buchenwälder wurden wie Hallen betrachtet, eine natürliche Tempelhalle mit Spitzbogengewölben und einem feierlichen halbdunklen Raumgefühl, was dann wahrscheinlich auch mitausschlaggebend für die gotische Architektur war. Goethe vergleicht die Architektur des Straßburger Münster mit einem hoch erhabenen, weitverbreiteten Baum Gottes und hat damit die Buche gemeint. Dieser erhabene und feierliche Eindruck, den ein Buchenwald vermitteln kann, durch die Stämme, die so silbergrau und weit hinauf so mächtig erscheinen, und mit diesem wunderbaren grünen Blätterdach oder im Herbst mit gelben und bräunlichen Blättern, im Winter mit dem schönen Geäst, das ist eine erhabene Erscheinung. Im keltischen Baumkalender hat die Buche ihren Feiertag am 22. Dezember zur Wintersonnenwende.
Das Wort „Buchstabe“ kommt wahrscheinlich daher, dass die Germanen früher Runen in kleine Stäbchen aus Buchenholz geritzt haben. Diese Stäbchen wurden als Orakel für wichtige Entscheidungen genutzt. Auch das Wort „Buch“ leitet sich von „Buchstaben“ ab, die früher in Buchenblöcke eingeritzt wurden.
Das sind kleine Geschichten zur Buche. Natürlich gäbe es noch viele botanische Begriffe und Feinheiten, wir wollen uns aber doch dem Ästhetischen zuwenden. Und zwar, indem wir uns diesen Buchenstamm genau ansehen. Da seht ihr viele Linien, und das ist natürlich ein anregender Ausgangspunkt für eine Linienstudie. Eine Linienstudie, die aus der Buche kommt.
Ihr seht schon, die Natur ist eine wichtige Inspirationsquelle und bietet uns viele Ideen an. Ihr könnt diesen Baumstamm zum Studium für eine realistische Linienstruktur mit vielen kleinen Ereignissen hernehmen. Zeichnen, wie sich die Linien verschieden und fein bewegen, stärker oder weniger stark sind. Dass sie leichte Bewegungen haben oder manchmal auch Ausbuchtungen von der Rinde selbst. Das alles könnt ihr genau studieren, in hell und dunkel. Also schaut diese Baumrinde gut an, macht auf eurem Zeichenblatt entweder ein Quadrat oder ein Rechteck, und dadurch begrenzt ihr einen Ausschnitt und innerhalb dieses Vierecks zieht ihr eure Linien wirklich von einer Seite zur anderen durch. So, dass ihr euch selbst einen Ausschnitt aus dieser Rinde, aus diesem Baumstamm macht.
Ich wünsche euch sehr viel Kraft, Ausdauer, Freude bei dieser Übung. Denkt an die Möglichkeit, mit dem Bleistift zarte Linien und gleichzeitig sehr kräftige Linien herauszuarbeiten. Denkt an die feinen Abstände zwischen den einzelnen Linien, sodass ihr auch das Licht mit hinein bezieht. So gelingt euch durch das vollkommen realistische Studium dieser Linien eine zugleich abstrakte, wunderbare Zeichnung.
Ich wünsche euch auch, dass ihr euch gut hinsetzt zu eurem Zeichenplatz, dass ihr euch gut vorbereitet, dass ihr euch wohlfühlt, dass ihr wisst, Zeichnen hält frisch. Und übers Zeichnen teilen wir uns viel besser mit als mit langen, langen Geschichten. Man bekommt sehr viel mehr Information über die Seele des Meisters oder der Meisterin. Und über eure eigene Seele könnt ihr über die Linie so schön berichten. Und jeder Betrachter und jede Betrachterin schwingt dann mit jeder einzelnen Zeichnung und damit mit dem Zeichner oder der Zeichnerin mit.