Hoher Berg, kleines Haus – Proportionen

Wenn Laien vom Zeichnen sprechen, dann meint der Großteil, dass „Zeichnen“ das Nachzeichnen von Gegenstandsproportionen und den Umriss eines Gegenstandes bedeutet. Selbst an den Kunsthochschulen wird jede Zeichnung zuerst als Linienproportion festgelegt und erst dann wird Licht und Schatten dazugegeben. Also die Proportionen müssen für sich allein studiert werden. In welchem Verhältnis sind die Formen. Sind es kleine oder große Formen? Das heißt, wenn wir genau durchdenken, worum es bei dieser Übung geht, braucht es eine genaue Beobachtung, weil der Kontrast die größte Rolle spielt. Wir müssen studieren, wie die Proportionen zueinander wirken. Dafür müssen wir ein Feingefühl entwickeln. Einige Parameter, die überhaupt die Grundlage für jede Zeichnung darstellen, haben wir schon geübt. Das ist, und ich erwähne es wieder, die Qualität der Linie. Die Qualität der Linie ist nicht ein zögerliches Bleistifthalten und vage eine Linie setzen, sodass die Betrachter*innen das Gefühl haben: „Ganz sicher ist sich die Person nicht gewesen, wie das geht, da wirkt ein Stück Unsicherheit mit.“

Eine gute Linie transportiert nicht nur Feingefühl, sondern auch ein gewisses Selbstbewusstsein. Es ist eine klar formulierte Linie. Und wenn sie noch so zart ist, ist der Bleistift gespitzt, die Linie ganz klar, genauso wenn sie sich in eine starke Linie steigert. Das Verhältnis von Hell und Dunkel in der Linie ist schon eine Proportionsfrage. In diesem Impuls wollen wir aber die Proportion von Groß und Klein versuchen, um diese Frage noch weiter zu denken und zu fühlen. Wozu ich euch ermutigen möchte, ist, zur Präzision der Linie. Immer den Bleistift spitzen, die Linie immer klar ausformulieren. Nicht zögerlich, nicht ängstlich. Vielleicht beim Anzeichnen, beim Versuch, wo die Linie hinkommt. Aber danach müsst ihr immer noch einmal ganz präzise mit dem Bleistift die Linie herausarbeiten.

Die Aufgabe lautet: ein hoher Berg und ein kleines Haus. Es geht darum, diese Proportion, die zueinander wirkt, zu suchen und nicht die banale Wirklichkeit zu illustrieren. Also nicht wie sonst hinten der hohe Berg, der auf der Zeichnung ganz klein erscheint, und vorne das Haus und wir können uns denken, dass der Berg höher als das Haus ist. Nein, es ist wörtlich zu nehmen: auf eurem Blatt Papier, egal wie groß es ist, ist der Berg alleinnehmend und das Haus ist ganz klein, das kann eine kleine rechteckige Schachtel sein. Denkt an die Faltungen im Berg. Das können steile Felswände mit Bruchlinien sein, sodass ihr euch zeichnerisch austoben könnt. Und dann gibt es darin eben ein Rechteck, das die Größenverhältnisse bestimmt. Dieses Rechteck kann mit relativ kurzen Strichen dunkel definiert sein.

Wenn euch diese Übung am Anfang zu schwierig ist, kann als alternative Übung beziehungsweise als Eingangsübung folgender Vorschlag zur Linienübung dienen: Ihr macht ein Feld auf eurem Blatt Papier, möglichst groß, und mit dem Lineal umschreibt ihr es mit einer Linie. Innerhalb dieses Feldes setzt ihr eine Linie, die in Wellen von links nach rechts verläuft, wie eine Wellenlinie. Keine zu detaillierte, kleine Linie, sondern relativ groß geschwungen. Wenn ihr mit dem Bleistift ins Wellenliniental hinuntergeht, wird die Linie graduell ganz zart. Steigt hingegen die Welle an, wird sie graduell ganz dunkel, bis sie am Höhepunkt ist, sich wieder hinuntersenkt und langsam zarter wird. Die Linie hat also in ihrer Beschaffenheit eine Proportion von Hell und Dunkel. Die erste Linie, hinauf dunkel, hinunter hell, hinauf wieder dunkel, hinunter hell. Ganz fließend, ganz aufmerksam, mit schön gespitztem Bleistift. Dann lässt ihr zu dieser ersten Welle, circa zwei, maximal drei Millimeter, also ganz eng, die nächste Linie folgen, die sich parallel zur anderen Linie bewegt und sich auch darin gleich verhält, wann sie heller und wann sie dunkler wird.

So zeichnet ihr das ganze Blatt durch, nur mit dieser einen Wellenform der Linie, die immer dann heller wird, wenn sie hinuntergeht und dunkler wird, wenn sie aufsteigt. Ihr könnt es mit weichen Wellenlinien probieren, ihr könnt ein zweites Blatt machen und es mit eher steileren Linien probieren. So habt ihr zwei Übungen: eine spielerische Wellenübung, die eure Konzentration auf den Bleistift neuerlich schärft, und die ihr gut übt und euch gut einprägt, damit die Linie sich nicht in fahle, zögerliche Linien hineinverirrt. Es sollen klare Statements in euren Linien zu sehen sein. Sensible, selbstbewusste, zeichnerische Statements. Die andere ist die Übung der Proportion Groß und Klein mit dem kleinen Haus und dem großen Berg.

Bevor ihr euch zu diesen Aufgaben setzt, schaut, dass es euch gut geht und ihr nicht in Eile seid. Besonders die Wellenübung wird euch sehr viel innere Ruhe bringen aber sie wird euch auch zugleich Ruhe abverlangen. Ihr könnt euch nicht hinsetzen und schnell sein wollen. Sondern langsam, behutsam und bewusst den Bleistift halten und bewusst die Mine am Blatt aufsetzen. Mit dieser Bewusstheit für die Linie aus der Wellenübung geht ihr dann in die Berg-Haus-Übung. Es soll die Spitze von elegantesten, sensibelsten, selbstbewusstesten Linien in diesen Bergen zu sehen sein. Ein Berg ist immer Berg, sobald die Linie steil rauf und runter geht. Das ist nicht die große Herausforderung. Aber die Linien, die ihr verwendet, sollen sich in der allerhöchsten Qualität bei euch wiederfinden. Denn das könnt ihr schon, auch wenn ihr vielleicht manchmal darauf vergesst. Das ist also eine kleine Erinnerung daran. Ich wünsche euch eine sehr freudvolle, spielerische, lustige Wellenübung. Die andere Übung ist leicht, wenn ihr dann wisst, dass ihr nicht auf die Qualität der Linie vergessen dürft – Groß und Klein ist ein Spiel!

Gutes Gelingen!