Die Eiche
Anknüpfend and den Impuls „Waldspaziergang“ möchte ich gerne vertiefend einen Baum vorstellen: die Eiche. Die Eiche ist besonders in Deutschland, aber auch in ganz Mitteleuropa, ein wichtiger Baum. Für Deutschland hat sie in vielerlei Hinsicht eine große Bedeutung. Erstens ist sie nach der Buche die Baumart, die am häufigsten vorkommt. Aufgrund ihrer Kraft und ihrer Ausdauer und ihrer Langlebigkeit verbindet man sie auch mit den Qualitäten des deutschen Volkes. Die Eiche selbst, das Blatt oder auch die Eichel kommen in vielen Symbolen vor.
Sie haben große mystische Kräfte in den verschiedenen Kulturen, in den Religionen und in den Sagen. Im Christentum, zum Beispiel, ist die Eiche ein Lebensbaum, weil sie mit ihrem dauerhaften Holz und ihrem langen Leben für das ewige Leben und das ewige Heil steht.
Der Baum wird mit der glaubensstarken Heiligen Maria in Verbindung gebracht. In der Gotik und auch in der Neuzeit findet sich die Eiche auf Bibeleinbänden. Im antiken Griechenland war sie Zeus geweiht, bei den Römern dem Jupiter. Die Kelten haben dem Himmelsherrscher und Wettergott Taranis die Eiche gewidmet. Plinius der Ältere hat geschrieben, dass die Kelten ohne Eichenlaub keine kultischen Handlungen vollzogen haben. Es steckt also große Symbolik in dieser Eiche.
Auch die Symbolik für die Ewigkeit: ein Eichenleben überdauert dreißig Generationen. Die Eiche kommt in vielen Wappen vor, auf Geldmünzen und sie ist als Widerstandseiche gepflanzt worden. Aber sie war auch Parteiabzeichen der NSDAP. Die Eiche hat in den unterschiedlichen politischen Denkrichtungen immer wieder ihre Liebhaber gefunden.
Man sagt auch: „Eichen sollst du weichen, Buchen sollst du suchen“, wenn ein Gewitter naht. Die Wahrheit ist, dass in Eichen nicht öfter der Blitz einschlägt als in Buchen oder in anderen Bäumen.
Auch in der zeitgenössischen Kunst ist die Eiche ein besonderes Symbol und ein wichtiger Baum. Joseph Beuys hat, zum Beispiel, anlässlich der documenta 7 in Kassel im Jahre 1982 7000 Eichen gepflanzt. Und für jede dieser 7000 Eichen, die gepflanzt wurden, gab es eine Basalt Stele. Sogar in New York, in der 22nd street in Chelsea, kann man einige solcher Stelen finden.
In Österreich war die Eiche Baum des Jahres 2016. Vielleicht ist noch interessant, dass die Eiche ebenso tief wurzelt, wie ihre Krone hoch ist. Natürlich ist auch das Holz wichtig, für Innenfurniere und Möbel, denn es ist ein sehr beständiges Holz. Man verwendet ihr hartes Holz auch für die Kachelöfen zum Einheizen.
Die Blüte einer Eiche, um eine Frucht – nämlich die Eichel – hervorzubringen, geschieht frühestens, wenn der Baum 20 bis 40 Jahre alt ist. Da blüht sie zum ersten Mal. Nebenbei bemerkt gibt es auch noch sehr viele Insekten, die in Eichen leben. Man sagt, dass über tausend verschiedene Insektenarten in diesen Bäumen ihren Lebensraum haben. Die Eiche hat also auch eine große Wichtigkeit in unserem ökologischen System.
Ich möchte euch einladen, einmal genauer auf die Rinde zu schauen. Dazu schaut ihr euch den Stamm einer jungen Eiche gut an. Es kann auch ein Foto sein, um eure Vorstellungskraft zu unterstützen. Die Rinde eines Baumes durchläuft mit der Zeit eine extreme Veränderung. Bei den älteren Bäumen kommen oft Knorren und Ausbuchtungen heraus. Aber ein noch deutlich jüngerer Baum zeichnet sich durch diese besondere Struktur aus. Daran kann man, ohne das Blatt zu sehen, sehr schnell erkennen, dass es eine Eiche ist.
Aufgrund dieser Eichenrinde versucht ihr nun ein Strukturbild. Wenn ihr genau schaut, könnt ihr fast so etwas wie eine Längsmaserung in der Rinde sehen. Die Erhöhungen und Vertiefungen dieser Rinde vernetzen sich, aber dennoch haben sie eine Längsstruktur. Vielleicht könnt ihr das zeichnerisch herausarbeiten.
Ich möchte euch in einem zweiten Schritt einladen, ein tatsächliches Eichenblatt ganz realistisch zu zeichnen. Also eine lineare Naturstudie dieses Eichenblattes. Diejenigen, die viel Zeit haben, können das Eichenblatt anschließend auch umgekehrt sehen. Dazu zeichnet ihr die Umrandung des Eichenblatts, die schöne Kontur, und ihr zeichnet die inneren Linien und füllt das Blatt dann so dunkel es geht mit ganz eng sitzenden kurzen Strichen mit dem Bleistift aus. So eng, dass man die einzelnen Striche nicht erkennen kann. Und dann lässt ihr nur die weißen Linien, die Adern, ganz fein durchblitzen. Das wäre eine Idee. Ihr könnt fünf solcher Eichenblätter nebeneinander auf ein Blatt setzen und fünf dieser Eichenblätter als Naturstudie versuchen.
Das ist eine sehr lohnende Zeichenaufgabe. Wer noch sehr viel Muße hat, kann es auch mit einer Eichel versuchen, die Futter und Eiweißspender für viele Tiere ist. Aber auch aus dem Kartenspiel oder aus dem Wappen kennen wir die Eichel. Sie eignet sich jedenfalls gut für eine Naturstudie.
Die Eiche möge euch die Ausdauer schenken, die dieser Baum in sich trägt. Sie möge euch dazu verführen, geduldig zu sein, wenn ihr es mit der Naturstudie versucht. Schaut jede kleine Veränderung im Blattrand genau an. Das darf nicht mechanisch werden. Wenn ihr genau schaut, sind das fünf ganz unterschiedliche Blätter. Wir wissen aus der Natur, es ist kein einziges Blatt exakt gleich wie das andere, auf keinem der Bäume, die uns das Universum schenkt. Das ist ein großes Wunder.
Mit dieser Ehrfurcht könnt ihr an die Aufgabe, solch wunderbare Blättern zu zeichnen, herangehen. Ihr könnt es auch mit diesen feinen Farbunterschieden versuchen. Entweder mit Farbstiften oder mit Sepiatusche und Pinsel. Das ist eine lohnende Erweiterung. Wichtig sind jedenfalls die Struktur der Rinde und die Naturstudie der Blätter. Wenn ihr mehr Zeit habt, könnt ihr die weißen Linien im Blatt versuchen, die ihr freistehen lasst.
Wenn ihr noch mehr Zeit habt, könnt ihr die Eichenblätter als Collage versuchen und sie zeichnerisch erweitern. Wenn ihr noch mehr Zeit und Lust habt, könnt ihr ein kleines Experiment machen: Ihr zeichnet ein Eichenblatt und versucht, wenn es auf dem Blatt sitzt, eine Geometrie abzuleiten. Das ist ganz einfach. Ihr bestimmt den Mittelpunkt des Blattes und zieht mit dem Zirkel einen Kreis.
Ihr könnt Achsen aus dem Inneren des Eichenblatts als Geraden hinaus entwickeln und daraus kleine Rechtecke oder Quadrate oder auch Dreiecke aus diesen Verbindungslinien in der Flucht hinaus entwickeln. Im Blatt kann im weitesten Sinne auch ein stumpfwinkeliges oder gleichschenkeliges Dreieck entstehen. Wenn man die Spitze des Eichenblattes als Punkt sieht und die Achsen so ausklappt, dass man eine Schräge in der Verbindung zum unteren Blattende zieht und diese wiederum durch eine Gerade verbindet. Ihr könnt mit dieser Beobachtung, mit dieser Idee der Geometrie spielen.
Schließlich münden alle Beobachtungen aus der Natur in die Geometrie und in die Mathematik. Dieses Beispiel im Detail zu studieren, macht sehr viel Spaß. Nehmt euch Zeit für diese Versuche und Varianten.
Bereitet euch selbst auch gut vor. Schaut, dass ihr euch gut fühlt. Zeichnen ist eine Anstrengung, Konzentration ist nötig. Macht gute Bewegungen, setzt euch mit geradem Rücken gut geerdet hin. Atmet gut durch. In diesem Bewusstsein, dass euch ein Stück Qualität von Eiche zu eigen ist, mit dieser Qualität zeichnet ihr dann diesen wunderbaren Baum.
Ich wünsche euch gutes Gelingen!