Rote Beeren
Ich weiß, dass das Zeichnen eine Anstrengung ist. Ich selbst zeichne oft sechs, sieben Stunden am Tag, manchmal acht, und dann bin ich sehr erschöpft. Aber ich weiß, dass eine halbe Stunde zu zeichnen bereits eine große Anstrengung ist. Ich kenne diese Anstrengung ganz genau. Manchmal ist es so, dass man sich unruhig fühlt und sich nicht in dieser Geduld mit dem Stift bewegt, die das Zeichnen voraussetzt. Wie ist es möglich, dass man beim Zeichnen ein bisschen ruhiger wird? Meiner Erfahrung nach ist die innere Unruhe dann stärker, wenn man das Gefühl hat, man ist nicht schnell genug, es gelingt nicht sofort – alles unter dem Übertitel „Es dauert zu lange“. Dieses Gefühl, schneller sein zu müssen als möglich ist, ist eine große Frustrationsquelle. Das Zeichnen setzt voraus, dass man sich Zeit nimmt. Dass man ganz langsam ist.
Man kann selten eine Zeichnung schnell machen. Man kann einmal eine Linie schnell machen, oder, das Kritzeln geht schnell. Aber wenn man Dinge genau studiert und genau hinschaut, das dauert. Das geht nicht schnell. Besonders dann nicht, wenn es gut werden soll. Mit jedem einzelnen Schritt, um euch zu verlangsamen, habt ihr schon einen Schritt in Richtung Gelingen für euch bereitgestellt und in euch aktiviert. Das ist wichtig zu verstehen.
Diese äußere Zeit, die unsere Gesellschaft vorgibt, ist sehr schnell. Alles, was auf uns eindringt, Filme, Nachrichten, in einem Staccato und das Tempo, in dem alles geschieht, dass man auch alles immer so schnell erledigen muss und sofort antworten und sofort, sofort, das alles bringt ein allgemeines Grundgefühl in unsere Gesellschaft: nämlich, dass wir sehr schnell sind. Das Zeichnen ist aber genau das Gegenteil. Die Zeichnung wird dann gut, wenn man sich Zeit lässt und langsam ist. Und das nehmt ihr für euch jetzt in Anspruch.
Ich wünsche euch das Bewusstsein, dass ihr für eure Zeichnungen Zeit braucht, aber auch Zeit habt. Jeder kleine Strich, der mit großer Muse, mit großem Zeitgefühl gezogen ist, ist ein Sieg. So wie Maria Lassnig sagt: „Jede Linie ist ein Sieg, ein Triumph über das Chaos dieser Welt.“ Ihr trägt mit dem Zeichnen dazu bei, dass es ein bisschen ruhiger wird, ein bisschen weniger chaotisch. In dieser Welt, aber vor allem auch in euch selbst. Zeichnen bietet große Geschenke. Für jeden, der zeichnet. An den Ergebnissen kann man das gut sehen.
Für diesen Impuls rate ich euch, wieder einmal in die Natur zu gehen und zu beobachten, wo ihr rote Beeren seht. Es ist nicht so wichtig, genau zu identifizieren, welcher Strauch es ist, wichtig sind die schönen roten Beeren. Diese Beeren im Detail zu studieren ist diesmal die Aufgabe. Ihr nehmt euch ein paar Beeren mit nach Hause oder ihr fotografiert sie. Studiert zuerst die Frucht als solches ganz genau. Vor allem das Innere, diese kleine Stelle, wo sich etwas tut. Bei jeder Frucht gibt es eine Stelle, wo irgendwann das Insekt in die Blüte gekrochen ist, um sie zu bestäuben und woraus dann eben die Frucht entsteht. Diese Stelle, wo sich etwas tut, könnt ihr genau studieren.
In der zweiten Aufgabe achtet ihr darauf, wie die Beeren verteilt sind. Damit studiert ihr also als nächstes die Verteilung dieser kleinen roten Elemente. Das ist eine schöne Übung, euch anhand der Natur zeichnerisch den Kopf über die Verteilung zu zerbrechen. Wenn ihr die Beere mit einer Linie studiert, die nichts anderes ist als eine kleine runde Form, dann ist in dieser kleinen runden Form eine Variation. Irgendwo ist eine Stelle, wo die Linie zarter ist und sich dann in eine etwas kräftigere Linie hineinbewegt und dann wieder zarter wird. Schaut, dass ihr diese Zartheit in der Beere und in dem kraftvollen Übergang bei jeder einzelnen Beere übt.
Dann kommt noch die Linie in die Zeichnung hinein, wo die Beeren draufsitzen, nämlich das Strauchästchen. Damit könnt ihr längere Linien einführen. Wer eine dritte Übung möchte, kann das gerne noch in Rot umsetzten. Also, die Beeren in Rot und der Rest in Bleistift. Mischt bitte nicht Rot und Grün. Ihr könnt Rot in verschiedenen feinen Farbklängen verwenden, sodass sie ein bisschen nuancieren, ein bisschen heller, ein bisschen dunkler, das geht. Aber bleibt nur in Rottönen und gebt keine andere Farbe zum Bleistift dazu.
Ich wünsche euch die innere Muße, dass ihr euch die Zeit gebt, und ihr auch die Zeit habt, diese rote Beeren zu zeichnen. Denkt immer auch, dass euer Platz, in dem Moment, in dem ihr zeichnet, euer Zeichenplatz ist. Bereitet euch gut vor, denkt daran, dass ihr euch streckt und dehnt. Vielleicht ist auch eine Tasse Kaffee oder ein Tee, oder ein Glas Saft oder Wasser wichtig. Schaut auf jeden Fall, dass ihr euch dem Zeichnen in schöner Atmosphäre widmet.
Ich wünsche euch gutes Gelingen!