Selbstbildnis im Kontext
Ich möchte heute etwas ansprechen, was für uns im Zeichnen wichtig ist: Wir haben eine Welt, die eine Kunstwelt ist. Diese Kunstwelt ist ein Spiegelbild der restlichen Welt, denn die Kunst ist nicht abstrakt auf irgendeinem Planeten und zieht sich abgehoben durch das Universum, sondern sie ist verbunden mit dem, was uns gesellschaftlich, was unsere Zeit beschäftigt. Wenn wir die Entwicklung der Kunstgeschichte betrachten, dann fragen sich manche: „Das war schon und das war schon und das war schon, also wozu soll ich noch?“
Aber das ist nie die Frage, die sich die Kunst stellt oder die sich Künstler und Künstlerinnen stellen, sondern sie stellen sich die Frage: „Was kann ich beitragen? Was kann ich zum Ausdruck bringen? Was kann ich selbst aus meiner Schöpfungskraft heraus zum Ausdruck bringen?“ Das bedeutet, dass wir ganz in uns gehen müssen, dass wir bei uns bleiben müssen.
Das ist die einzige Chance, authentische und originelle Arbeiten zu schaffen. Das könnt ihr mit euren Arbeiten sehr schön zeigen. Ich möchte euch ausdrücklich bestärken, bei euch selbst zu bleiben und die kostbare Zeit des Zeichnens so zu gestalten, dass ihr bei euch selbst bleiben könnt und nicht abgelenkt seid.
Wenn wir aber nun uns selbst und unser Leben betrachten, müssen wir eine adäquate Sprache für das finden, was wir ausdrücken wollen. Das kann zum Beispiel über die Darstellung des Porträts sein. Dort ist es am eindrücklichsten, weil am subtilsten, weil wir darin Linien finden, die uns berühren, die uns vom Leben erzählen, die uns von unseren Kämpfen erzählen, von unserem Werdegang, von unserer Entwicklung.
Die Linien erzählen davon, dass sie Teil dessen sind, wie wir so geworden sind, wie wir sind. Das ist eine wunderbare Sache. Dass wir in der Summe all dessen, was wir erlebt haben, jetzt so sind und unsere Möglichkeiten daraus schöpfen können, haben eine ungeheure Kraft und ein ungeheures Potenzial. Die Zugangsweise zu einem Porträt kann sehr unterschiedlich sein, wir können vom Zufall ausgehen, oder wir können zielgerichtet herangehen. Dadurch, dass wir schon Sicherheit in diesem Thema entwickelt haben, können wir zielgerichtet sein und unsere Nachforschungen danach, was uns ausmacht, bewusst angehen.
Alles, was uns umgibt und was uns ausmacht, hat Gegenwart, hat Geschichte und hat Zukunft. Das ist eine so große Vielfalt, dass es vielleicht schwer fällt zu entscheiden, wo anzufangen. Natürlich fangen wir dort an, was uns am nächsten steht, was uns als erstes einfällt und unmittelbar berührt.
Ich möchte also gerne den Kontext bemühen. Ihr in eurem Kontext. Was bedeutet das? Wir sind keine abgehobenen Wesen, die ohne Geschichte sind. Das ist denkunmöglich. Wir sind nicht außerhalb von Zeit und Raum zu denken. Das geht physikalisch nicht und das geht mit unserer Vorstellungskraft nicht, das geht tatsächlich überhaupt nicht.
Wie wir wissen, hat uns Albert Einstein in der Relativitätstheorie gezeigt, wie abhängig alles voneinander ist. Alles ist in Relation zueinander. Ich möchte, dass ihr diese Relativitätstheorie heute für euch in Anspruch nehmt. Natürlich nicht in Form von komplizierten Formeln, sondern in Form eures eigenen Lebens. Wir wenden die Relativitätstheorie praktisch an. Das macht auch Spaß zu sehen, was in Relation zu euch wichtig gewesen ist oder gerade wichtig ist oder wichtig sein wird.
Ich möchte euch einladen, euch selbst in den Kontext dieser Möglichkeiten zu stellen. Das bedeutet, dass ihr euer Selbstporträt, wie immer das entsteht, in einen Zusammenhang stellt. Die Kunstgeschichte bietet uns viele Beispiele, die sehr ausgefallen sein mögen, dadaistische Ideen, surrealistische Ideen, Ideen der Natur, Ideen der Erinnerung, des Metaphysischen, des Mythologischen.
Egal wie euer Selbstporträt entsteht, ob ihr collagiert, ob ihr zeichnet, ob ihr mit abstrakten Möglichkeiten hineinarbeitet, ob ihr alles ganz realistisch zeichnet, die Aufgabe ist immer, in einem Bild mit einer Sprache zu sprechen. Was heißt das? Wenn ihr Collage verwendet, dann schaut genau, was sich in der Collage befindet, um diese Möglichkeiten, die in der Collage sind, linear oder flächig im Bild fortzusetzen.
Wenn ihr Natur zeichnet, in Form von Blättern, Bäumen, Blüten, dann sind alle Linien auch in dem Gesicht so wie jene in der Natur. Wenn ihr das Gesicht zeichnet und plötzlich ist euer Ohr eine duftende Rose, dann ist diese Rose genauso liebevoll gezeichnet wie das Gesicht selbst. Wenn ihr meint, dass eure Haare zu eurem Gesicht plötzlich ein anderes Leben bekommen, dann wird das in derselben Weise gezeichnet wie die Linien in eurem Gesicht.
Wenn ihr meint, dass aus euch ein Vogelmensch wird oder ein Krokodilswesen, wenn ihr also eine Metamorphose zeichnen möchtet, dann sind alle Teile, die euch dazu einfallen, in derselben Weise gestaltet. Das scheint kompliziert zu sein, aber es ist sehr einfach.
Wählt ihr Linien, dann sind die Linien überall gleich, in der gleichen Emotion. Wählt ihr kurze Striche, dann sind die kurzen Striche immer in derselben Emotion. Wählt ihr Punkte in der Summe, um etwas darzustellen, dann sind die Punkte immer gleich. Wenn ihr mischt und mit der Farbe in die Fläche oder in die Linie hineingeht, ist es so, dass es dort, wo es kräftig ist, eine kräftige Antwort braucht, dort wo es zart ist, eine zarte Antwort braucht, und so weiter.
Ihr geht mit großer Einfühlung in dieses Thema, in diese visuelle Aufgabe. Dann seid ihr auf einer Ebene des ästhetischen Bewusstseins, wo die Arbeit in jedem Fall gelingen wird. Das ästhetische Bewusstsein beschäftigt sich nämlich nicht damit, wie alt ihr seid, wie arg eure Kindheit war oder wie schlimm die Menschen sind, sondern es beschäftigt sich nur mit der Übertragung dieser Emotionen, die ihr erlebt habt: Freude, Trauer, Kämpfe, Widerstände, usw.
Das überträgt sich in die Qualität der Linie. Und diese Qualität interessiert uns. Wie sehr uns das berührt, wie stark diese Emotion vermittelt wird, ohne dass wir die Geschichte direkt erzählen müssen. Wir verstehen die Tiefe der Seele – das ist die Kunst der Zeichnung. Dass wir über die Vibration der Linien, über die Emotion dieser Linien tief in die Seele des Künstlers oder der Künstlerin blicken dürfen und wir dabei selbst tief in unserer Seele berührt sind.
Das ist die Aufgabe der Kunst: das Menschliche zu berühren, unsere Seelen zu berühren, dort wo wir das Menschsein in uns selbst wahrnehmen können. Dann sind wir in diesem wunderbaren Bei-uns-selber-sein, in diesem Im-eigenen-Inneren-angekommen-sein. Ich wünsche euch viel Spaß bei eurem Im-Kontext-sein.
Was immer euch dazu einfallt, was immer ihr euch dabei schenkt.