In einem Café sitzen und Häuser beobachten

In diesem Impuls möchte ich euch nicht in die Natur, sondern in ein Café locken, weil das Wetter nun warm und es sehr schön ist, in die Stadt, in ein Kaffeehaus zu gehen und einen Kaffee in der Sonne zu genießen. Aber natürlich mit einer zeichnerischen Absicht. Und zwar in der Beobachtung der Häuser, die dieses Café umgeben. Nehmt euren Zeichenblock mit und studiert die senkrechten und waagrechten Linien, die ihr in dieser Umgebung findet. Es ist genau genommen eine Übung zum Raster, aber eben aus der konkreten Beobachtung der euch umgebenden Situation. Ihr macht also nichts Anderes als senkrechte und waagrechte Linien, keine Schnörkel, keine Kurven, keine Kreise. Am besten ist es, wenn ihr das Zeichenblatt einrahmt, also ihm Begrenzungslinien gebt, sodass ihr wisst, wo das Feld ist, auf dem ihr euch bewegt.

Diese Art von Beobachtung ist schon eine fortgeschrittene Studie eines normalen Rasters. Ein normaler Raster ist so ähnlich wie ein kariertes Papier, nur mit größeren und kleineren Abständen. Das hier ist eine Studie von Linien, die irgendwo anfangen und aufhören, aufhören und anfangen, oft in der Mitte des Blattes. Aber sie sind in jedem Fall waagrecht und senkrecht. Und im besten Fall überlagern sie sich nicht oder stehen über andere Linien drüber, sondern jede waagrechte Linie schließt direkt an eine senkrechte an.

Beobachtet eure Linien gut, die Linien der Häuserfassaden, von Gesimsen, von Türen, von Fenstern, beobachtet, wo das Dach anfängt, wie die Größenverhältnisse der Öffnungen, sprich von Fenstern und Türen, zur Fassade sind, welche Begrenzungen der Häuser es gibt. Beginnt mit einem Haus und im nächsten Schritt könnt ihr Begrenzungen von mehreren Häusern auf ein Blatt bringen.

Dabei könnt ihr durchaus, als wenn sie leicht verrückt wären, mehrere Häuser übereinanderlegen, die einzelnen Bereiche sich überschneiden lassen und unterschiedliche Räume bilden. Denn die Linien sind natürlich vorne stark und hinten zart, sodass ihr mit ihnen sehr viel Räumlichkeit erzeugen könnt. Letztendlich wird man nicht wissen, woher eure Linien kommen, die Fassaden sind nur der Ausgangspunkt eurer Beobachtungen, sind die Inspiration. Wie die Linien dann auf eurer Zeichnung umgesetzt sind, ist wieder eine ganz andere Ebene. Da seid ihr frei zu entscheiden. Damit ihr nicht nur die Qualität der Linie beachtet, sondern auch die Verteilung der einzelnen Linien. Wie weit sind sie entfernt, wie nah sind sie beisammen, wo überkreuzen sie sich, wo sind sie enger zusammen, wo sind sie weiter auseinander, damit könnt ihr Spannung erzeugen.

Vielleicht geht ihr in verschiedene Cafés, vielleicht geht ihr in euer Lieblingscafé, vielleicht in einer Altstadt, vielleicht in einem Park, vielleicht an einem Platz, wo zwar eine Weite ist, aber doch ein Haus zu sehen ist. Beobachtet die Architektur. Wenn ihr nicht in ein Café gehen wollt oder könnt, beobachtet die Architektur, die ihr von eurem Haus, wenn ihr hinausschaut, oder am Balkon, oder von eurem Garten aus beobachten könnt. Probiert aus, wie viele Möglichkeiten ihr findet, um Studien von Fassaden zu machen, die immer den Ausgangspunkt eines Rasters haben. Das ist meine Aufgabe für euch.

Mit dieser Übung schult ihr das Bewusstsein für die räumliche Verteilung von senkrecht und waagrecht und für die räumliche Verteilung von größeren und kleineren Distanzen. Alle Linien sprechen miteinander, sind im Dialog, erzeugen eine Spannung, erzeugen Komposition. Dieses Bewusstsein, wie ihr Komposition entwickelt, kommt über diese Übung. Das ist wieder einmal so eine Zwischenübung für etwas, das für viele andere Zeichnungen, eigentlich für alle anderen Zeichnungen und Bilder ausschlaggebend ist.

Ihr könnt die Linien mit Bleistift ziehen oder mit Kohle, sogar mit Pinsel. Ihr könnt die Fassaden auch abfotografieren und zuhause die Linien studieren, die ihr haben möchtet. Ihr könnt die Linien variieren, sodass eben auch eine Räumlichkeit entsteht: Groß, klein, zart, kräftig und die Distanz der Linien. Das ist in dieser Rasterübung in den unterschiedlichsten Variationen möglich. Wenn euch fad wird, braucht ihr vielleicht auch ein bisschen Farbe, um das ein oder andere Feld in eurem Raster in Farbe zu definieren. Das ist euch überlassen.

Wichtig ist das Studium der Distanzen, Hell und Dunkel, Groß und Klein. Es ist eine Grundübung allen bildnerischen Gestaltens und natürlich auch allen architektonischen Gestaltens. Die Architektur ist heute sehr gefangen in den vorgefertigten Elementen der Bauteile. Fenster, Türen, Wände sind industriell gefertigt und werden aus einem Katalog ausgesucht, in dem bestimmte Größen erhältlich sind. Sondergrößen sind teuer und so werden diese Standardgrößen verwendet. Deswegen sind uns die alten Häuser viel angenehmer und sympathischer, die Größer und Kleiner mischen und bei denen diese Kriterien noch nicht so industriell, glatt und damit auch kalt dahergekommen.

Ihr könnt in eurer Zeichnung also eine sehr schöne Rastersituation schaffen, die das alte und neue verbindet, oder die nur alt ist oder nur neu, und die euch spüren lässt, wo letztendlich euer Wohlgefallen – um in den Worten von Immanuel Kant zu sprechen – hinfällt. Wie immer, bereitet euch gut vor, geht in euch selbst und bleibt ganz bei euch selbst, atmet tief durch. Dann geht ihr mit diesem schönen inneren Blick, aus eurem Bewusstsein, wie ihr an eurem Zeichenblatt sitzt, wie ihr atmet, in diese Beobachtung hinein, von Außen und gestaltet von diesem Gefühl aus.

Diese Muße und diese Freude wünsche ich euch! Viel Vergnügen und schöne Ergebnisse!