Klappen, Knicke, Stufen

Was immer wir in der Zeichnung besprechen – und darin möchte ich euch, obwohl ich es immer wieder sage, bestärken: an vorderster Stelle steht in einer Zeichnung die bewusste Konzentration auf die Qualität der Linie, noch bevor wir einen Abbildungsinhalt damit verbinden. Es ist die Qualität der Linie eine so grundsätzliche Herangehensweise an die Zeichnung – und wenn ich von Zeichnung spreche, dann spreche ich von der Kunst der Zeichnung – dass ich es nicht oft genug wiederholen kann.

Viele Menschen glauben, dass man etwas sehen muss und dass es genügt, eine Form, ein Tier oder ein Gesicht oder ein Auto, was auch immer, möglichst naturgetreu abzubilden. Ich will das nicht abwerten, aber bevor wir in der Zeichnung über diesen Inhalt sprechen, steht an vorderster Front die Qualität der Linie. Deswegen üben wir diese Linien gemeinsam. Ich finde es zauberhaft, dass ihr euch dieser Anstrengung, dieser Konzentration auf die Linie hingebt.

Wir besprechen schon seit einiger Zeit den Raum und ich möchte noch ein bisschen mit dem Raum in einer anderen Facette weitermachen. Wir sind nicht denkbar ohne Raum. Selbst die Physiker können das nicht denken. Egal was wir tun, denken, fühlen, sehen oder hören, es ist ohne Raum nicht vorstellbar. Deswegen ist Raum in der bildenden Kunst ein großes Thema. Ich möchte euch dazu heute ein paar Übungen vorschlagen, um den Raum in der Zeichnung auszuprobieren.

Wenn ihr eine gerade Linie von oben nach unten zieht, und diese Linie an einer bestimmten Stelle knickt und eine Richtungsänderung vornimmt, immer wieder, bei jeder neuen Linie immer an derselben Stelle die gleiche Richtungsänderung, mit demselben Abstand zwischen den Linien, dann entsteht bereits so etwas wie eine Perspektive. Das ist die erste Übung. Wenn ihr die Richtung immer wieder ändert, die Linien also kürzer sind und einmal diagonal nach links, einmal diagonal nach rechts gehen, werden diese Knicke zu Stufen.

Achtet darauf, dass die Linien parallel sind und der Abstand dazwischen nur ein, zwei Millimeter ist. Das könnt ihr in verschiedenen Richtungen üben. Das ist die nächste Übung. Diese Übung lässt sich erweitern, indem ihr ein Quadrat als Grundmodul hernehmt.

Ihr macht auf einem Blatt mehrere kleine Quadrate, zum Beispiel neun Quadrate, mit je 3 x 3 cm oder 4 x 4 cm, und zwischen den Quadraten ist 4 cm Abstand. Diese Quadrate sind nur durch eine Linie umschrieben und natürlich frei gezeichnet, mit schwingenden, vibrierenden Linien. Jedes Quadrat erhält dann eine Klappe, als würde es aufklappen wie eine Tür oder ein Fensterflügel. Von diesen neun Quadraten hat jedes eine andere Klappe: Mal ist die Klappe von links aufgeklappt, mal von oben, von unten, von vorne oder von hinten und so weiter, sodass ihr viele verschiedene Klappen und damit unterschiedliche Perspektiven zum Bezugspunkt des Quadrates schafft. Das ist eine sehr schöne und lustige Übung.

Ihr habt also insgesamt drei Übungen: Linien, die einen Knick haben. Das könnt ihr über das ganze Blatt Linie für Linien anlegen, sehr schön gezogene Linien, mit sehr wenig Abstand, und an einer bestimmten Stelle geht die Linie eine leicht andere Richtung ein, sodass ein Knick entsteht.

Da seht ihr schon, wie sich der Raum zu formen beginnt. Das ist die erste Aufgabe. Die zweite Aufgabe ist, dass die Linie öfter die Richtung ändert, wie bei einer Treppe. Ihr braucht dafür viele Knicke, links, rechts, links, rechts, das heißt ihr braucht auch viele Linien. Bei jedem Knick könnt ihr entscheiden, ob ihr die neue Linie, die in eine andere Richtung geht, ein bisschen über die andere Linie darüberlegt oder ob ihr einen kleinen Abstand lässt, sodass durch die Auslassung eine dünne, weiße Linie entsteht. Das sind Entscheidungen, die ihr treffen könnt.

Die dritte Übung ist, dass ihr neun Quadrate anlegt, und wenn euch mehr dazu einfällt, dann gerne zwölf oder fünfzehn oder noch mehr, und dieses Quadrat aufklappt. Diese Klappe bedeutet immer eine Verkürzung oder eine Verlängerung, je nach Blickwinkel, je nachdem, was der Ausgangspunkt des Quadrates ist. Stellt euch vor, ihr klappt eine Mappe auf, ein Fenster, eine Tür, einen Laptop, sehr viele Dinge sind klapp-bar.

Schaut euch diese Dinge aus verschiedenen Perspektiven an und nehmt bei jedem Quadrat eine andere als eure Idee. Dieses Geklappte definiert ihr dann mit vielen kleinen Linien in diagonaler Richtung, sodass die Klappe deutlich wird. Das heißt ihr habt das Grundmodul des Quadrates als Außenlinie und auch die Klappe hat zunächst Außenlinien, aber diese füllt ihr mit vielen kleinen Linien, so wie schraffiert, aber eben nicht schraffiert, weil die Linien schön moduliert sind.

Das Schraffieren ist außerhalb der Kunst der Zeichnung, eine Skizze und das ist ein großer Unterschied. Wir verfolgen vibrierende, schöne Linien – schön im Sinne der Kunst der Zeichnung: mit Ausdruck und Seele. Das ist meine heutige Anregung.

Ich wünsche euch sehr gutes Gelingen bei euren Übungen. Alles Liebe!