Der rote Fleck

Ich möchte euch heute zu folgender Idee einladen: Normalerweise arbeitet ihr mit dem Bleistift oder auch mit Tusche, aber heute möchte ich euch animieren, einen Buntstift in die Hand zu nehmen. Und zwar in Rot. Rot ist eine Farbe, die wir im Normalfall als Signalfarbe bezeichnen. Rot kann sehr viel Emotion erzeugen. Vom dunkelsten bis zum hellsten Rot, vom aggressivsten Rot bis zum weichsten Rot, vom fröhlichsten Rot bis zum traurigsten Rot. Ihr seht schon, wenn wir die Farbe Rot in einer gewissen Tonalität beschreiben wollen, haben wir dafür ein Wort der Emotion zur Verfügung.

Ihr nehmt also einen Rotstift, manche haben vielleicht einen Farbstiftkasten mit vielen Rottönen, manche haben vielleicht nur einen Stift. Ihr wählt einfach ein Rot, das euch lieb ist, oder dieses eine Rot, das ihr gerade habt.

Was tut ihr mit diesem Stift? Ihr fangt an, eine Fläche zu definieren, einen roten Fleck. Der rote Fleck kann irgendwo am Blatt sitzen. Ihr setzt also an einer Stelle den roten Stift an und zeichnet kleine Elemente auf das weiße Blatt. Dadurch, dass ihr diese kleinen Elemente verdichtet zeichnet, entsteht eine Fläche. Diese Fläche, einem Fleck ähnlich, hat keine genau definierte Ausprägung. Das bestimmt ihr. Das kann eine sehr amorphe Form sein, sie kann wellig sein oder zackig oder auch gerade, wie immer ihr das angenehm findet. Wie immer es sich zu der Stelle, auf der der Fleck zu sitzen kommt, anfühlt.

Wenn ihr aber runde Konturen wählt, muss der Fleck in seinem gesamten Umfang eine runde Kontur haben. Es können gar keine Ausbuchtungen sein, oder nur wenige Ausbuchtungen oder viele kleine Ausbuchtungen sein, die sich amorph auf das Blatt legen. Hat eure Form jedoch Zacken, muss die Kontur immer zackig sein. Es können viele Zacken sein oder wenige, sie können lang sein, sie können kurz sein. Aber auf jeden Fall mischt ihr nicht rund mit zackig. Da ist es besser, ihr nehmt zwei Blätter und probiert auf dem einen Blatt einen Fleck mit runder Kontur und auf dem anderen Blatt einen Fleck, der zackige Konturen hat.

Als dritten Fleck könnt ihr eine geometrische Form wählen. Eine sehr kontrollierte, von vornherein gesteuerte Form, die ihr euch vornehmt und dann in Rot definiert. Da werdet ihr bemerken, dass es einen großen Unterschied macht, ob ihr von innen heraus eine Form entwickelt, die ihr noch nicht kennt, die sich einfach entwickelt, auf die ihr mit dem Zeichenstift reagiert, oder ob ihr euch vorher schon entscheidet, ein Konzept entwickelt, welche Form eure Fläche annimmt. Das ist ein grundlegender Unterschied, der natürlich eine große Emotion verursacht, während des Zeichnens und auch dann als Bild.

Wenn ihr also drei solche Zeichnungen entwickelt wie besprochen – eine amorphe Kontur mit weicher Form, eine zackige Form und eine geometrische Form – kann es sein, dass ihr das Gefühl habt, dass auf dem Blatt noch etwas fehlt. Dann habt ihr nur eine Möglichkeit: nämlich eine schwarze Linie.

Die kann kurz sein, es kann ein Strich sein, es kann eine waagrechte Linie sein, eine senkrechte, das kann ich euch jetzt nicht sagen. Ich kann auch nicht sagen, ob sie überhaupt nötig ist und wenn ja, wo sie nötig ist. Diese Freiheit, die ich euch damit gebe, birgt eine große Herausforderung: Nämlich, dass ihr selbst entscheiden müsst, wo eure Linie sitzen muss, so sie überhaupt nötig ist. Ich möchte euch ermutigen mit dieser Möglichkeit zu spielen.

Also ihr habt rote Farbe, ihr habt drei Möglichkeiten für eine rote Fläche, und natürlich ungeahnt viele andere Möglichkeiten – denkt dabei an die strukturelle Identität, das heißt, nicht mischen! Weder in der Struktur des Flecks noch in der Kontur der Elemente mischt ihr rund und zackig, sondern rund ist rund und zackig ist zackig – und dann kommt diese schwarze Linie dazu, falls sie nötig sein sollte.

Die Aufgabe klingt sehr einfach, ihr müsst auch ganz einfach bleiben, nicht kompliziert sein. Und dennoch ist sie eine große Herausforderung, weil sie euch auch auf der kompositorischen Ebene fordert. Achtet darauf, wohin sich der Bleistift zu Beginn setzt. Meistens hat man eine Stelle, an der man immer wieder beginnt. Man hat so eine gewisse Neigung. Immer wieder sitzt das Element am Blatt irgendwie an derselben Stelle. Beobachtet. Vielleicht könnt ihr den Fleck einmal ein bisschen anders setzen als ihr vielleicht aus gewohnter Weise heraus möchtet. Übergeht sozusagen eure Gewohnheit und geht von innen nach außen in die Form hinein, die sich entwickelt.

Diese Freiheit ist zugleich eine ständige Selbstbeobachtung und eine Beobachtung, wie die Form sich entwickelt, wie weit sie sich ausdehnt, wie groß sie werden darf. Ob sie noch eine schwarze Linie braucht, eine kurze, eine lange, eine senkrechte, eine waagrechte. Nur ein Strich, nur ein Element. Das alles sind große Fragen, die wir im Zeichnen ständig bewältigen müssen. In diesem Fall werden sie zum Thema.

Ich wünsche euch eine sehr freudvolle Experimentierphase mit roter Farbe, und vielleicht einer kleinen schwarzen Linie.