Suche nach Möglichkeiten
Vielleicht habt ihr euch bereits intensiv Gedanken gemacht, was in der nächsten Zeit zeichnerisch entstehen soll, vielleicht habt ihr Konzepte, Konzeptideen, oder auch nur vage Ideen. Wenn wir am Beginn eines längeren Prozesses sind, ist es so ähnlich wie vor einem leeren Blatt Papier oder einer leeren Leinwand zu stehen. Da ist noch alles unberührt und vielleicht auch sehr vage. Jedenfalls ist es aufregend und es macht Lust nach den eigenen Möglichkeiten zu suchen. Also lautet dieser Impuls „Die Suche nach Möglichkeiten“.
Wenn ich etwas suche, das ich noch nicht fertig ausformuliert habe oder das als Idee bereits da ist, aber noch nicht weit fortgeschritten ist, dann ist das Zeichnen zu Beginn immer eine große Hilfe. Über das Zeichnen kann ich die Idee ausformulieren, mir klarer werden. Ich kann eine Form finden und diese dann abwandeln. Ich kann nach einer Stimmung suchen. Ich kann überlegen, wie geht es, dass ich in meinem Strich, in meinem Tun mit dem Bleistift locker bin? Wie geht es, in die Freiheit zu kommen?
Ich möchte euch zwei Dinge vorschlagen, um diesen Prozess einzuleiten, der euch in die Kreativität vertiefen wird und der euch helfen wird, euer Ziel zu erreichen. Um in die Lockerheit zu kommen, ist es gut, wenn ihr euch in den Disziplinkeller sperrt, in den Keller der Disziplin. Jetzt werdet ihr vielleicht tief Luft holen, aber was ich damit meine, ist Folgendes: Ihr schärft eure Konzentration und Aufmerksamkeit für euch selbst im künstlerischen Tun, indem ihr ein Blatt nehmt und so wie die Hand möchte, Strich für Strich für Strich von oben nach unten auf das Papier setzt.
Ein Strich ist kurz, nur so lange wie die Hand den Stift führen kann, ohne sich zu bewegen. Das heißt, die Finger bewegen sich auf und ab, die Hand führt den Bleistift von oben nach unten, Linie für Linie, Reihe für Reihe. Dabei habt ihr die Wahl, ob sich diese Striche überlagern und Strich für Strich kleine Linien bilden, oder ob ihr ganz fein Weiß freilässt und Linie für Linie zieht. Das erfordert hohe Konzentration, denn jeder Strich ist essenziell. Ihr werdet merken, dass ihr eine seltsame Kraft aufbaut. Ihr müsst das ein Blatt lang durchhalten – habt nebenbei eine sehr schöne Zeichnung – und habt vor allem eine irrsinnige Kraft gebündelt, um in die Freiheit zu gehen, um in den Impuls zu gehen.
Um in etwas zu gehen, das ihr noch nicht kennt, bei dem ihr explodieren könnt, oder mit den Ideen für euer Projekt schon in diese Richtung gehen könnt, sodass es euch dann leichtfällt, in einen Schwung hineinzukommen. Denn man kann sich nicht so lang und ewig disziplinieren. Wenn euch diese Übung nicht gefällt, dann gefällt euch vielleicht eine andere Übung, die ihr alle kennt: Linie für Linie von links nach rechts zu ziehen, ganz eng, ganz aufmerksam, ganz wunderbar, so gerade wie möglich, aber mit freier Hand.
Dann baut sich auch hier eine wunderbare Energie auf. Dann könnt ihr nach der Konzentrationsübung in eine noch freiere Form finden und einfach dahin kritzeln, bis sich eine Form findet. Sodass ihr euch von außen in etwas hineintastet, das sich formen wird. Das kann sehr unterschiedlich aussehen. Das kann in den Kreis hinein, in ein Tier hinein, in den Wind hinein, in etwas hinein, das ein Loch hat, wie eine verletzte Stelle oder eine Narbe. Das kann eine Stimmung haben. Die Stimmung, die zart ist. Die Stimmung, die stark ist.
Die Stimmung die dunkel ist, die hell ist, die einen Übergang von Dunkel nach Hell hat. Die eine Wildheit hat oder eine Sanftheit oder bei der die Striche unmittelbar brutal sind, weil sie in die Fläche hineingehackt sind. So könnt ihr jedes Gefühl in eine Stimmung umlegen, die sich auf eurem Blatt manifestiert. Es ist schon viel davon angeklungen, wonach ihr sucht. Ihr alle habt eine bestimmte Suche, in der ihr unter Umständen unterschiedlich weit seid, aber immer ist es gut zu fragen: In welche Stimmung möchte ich mein Bild, meine Arbeit bringen? Brauche ich eine Farbe für dieses Hineinfinden? Muss ich einen roten Stift oder einen blauen oder einen grünen oder braunen oder gelben nehmen oder zartes Grau oder schwarzes Schwarz? Das alles ist Stimmungssache. Eine Stimmungssache, die in euch ist.
Damit bin ich bei dem ausschlaggebenden Punkt für alles, was ihr tut: Dass ihr immer zu euch findet. Sich in den Keller der Disziplin zu begeben, heißt, dass ihr zu euch selbst findet, dass ihr ganz aufmerksam Strich für Strich zeichnet. Ihr müsst nichts denken, gar nichts, nur aufmerksam auf die Spitze des Bleistiftes konzentriert sein. Dort liegt die größte Freiheit. So kommt ihr in das Lockere hinein, um etwas auszuformulieren.
Weil ihr bei euch bleibt. Bei sich selbst bleiben. Nicht denken, was werden die anderen sagen, wie kann ich die anderen begeistern, wie kann ich die anderen überzeugen? Nein! Ihr überzeugt euch selbst, von euch selbst. Das, was ihr vorhabt, betrachtet ihr mit den Augen der Liebe. Was ihr vorhabt, müsst ihr lieben, ganz einfach. Was ihr tun werdet, geht ihr mit sehr positiver Grundhaltung an, mit Neugier, mit Freude, mit Lust und mit Liebe. Wenn ihr euch bereits eine Form vorgenommen oder sie schon gefunden habt, versucht ihr, diese Form in kleinen Zeichnungen abzuwandeln.
Zu schauen, was steckt denn in dieser Form, was ist möglich? Welchen Blickwinkel kann ich zu dieser Form einnehmen? Wie kann ich meinen Standpunkt ändern? Ihr könnt es von oben anschauen, von unten, von der Seite, von schräg, ihr könnt euch in eine Rolle versetzen. Macht euch bewusst, welchen Standpunkt ihr normalerweise einnehmt und wie ihr ihn verändern könnt.
Das ist ein Schritt in die Freiheit, in die Neuheit. Natürlich ist immer die Frage, grundsätzlich: An wen richtet sich das, was ich tue? Ihr geht von euch aus, ihr findet einen Ausdruck. Aber es ist gut zu wissen, ob ihr es an Kinder richtet, an Erwachsene, ob ihr es an alle richtet, oder nur an eine Person, die ihr liebt, oder der ihr etwas über das Bild sagen möchte, ob ihr euch eine konkrete Person vorstellt, oder eine konkrete Situation, weil ihr eine Ausstellung plant, oder weil ihr plant, es in ein Buch zu gießen.
Das ist eine Vorstellung, die euch hilft, die weiteren Schritte zu lenken. Aber immer geht ihr von dem Punkt aus, dass ihr bei euch selbst seid. Achtet sehr auf die Qualität der Linien. Wenn ihr zur Farbe greift und den Pinsel nehmt, ist es dasselbe. Ihr achtet auf den Moment, in dem ihr, mit was auch immer ihr in der Hand habt, die Leinwand oder das Papier berührt. Was ereignet sich da? Was geschieht? Ihr beobachtet. Was passiert? Was passiert mit meiner Linie? Was passiert mit meiner Fläche? Was passiert mit der Kontur?
Diese Dinge bringen euch sehr viele Ideen. Und vor allem schult es euch in der Einfühlung dessen, was gerade passiert. Eine der wichtigen Eigenschaften des künstlerischen Tuns ist die Einfühlung. In all das, was auf dem Blatt oder der Leinwand geschieht, müssen wir uns einfühlen. Das, was am Blatt oder auf der Leinwand geschieht, mit unseren Linien und Flächen, spricht zu uns, wir fühlen es, wir fühlen es mit unseren Augen. Intuitiv wissen wir, wohin der nächste Schritt geht. So lassen wir uns ein auf diese Balance von Denken und Fühlen.
Wir denken ununterbrochen, aber wir fühlen auch. Wir fühlen uns ein in das, was passiert. Und wenn ihr die erste Energie losgeworden seid und das Gefühl auftaucht, ihr wisst nicht weiter – das ist ein sehr gutes Gefühl, nebenbei gesagt – dann heißt das: Halt! Stopp! Schauen! Weglegen! Neu anschauen! Kurze Pause! Mit frischen Augen hinschauen! Vielleicht ist das Bild sogar fertig. Vielleicht muss es noch ein bisschen abliegen, um zu erkennen, was passiert ist. Aber auf jeden Fall ist dieses Nicht-weiter-Wissen, oder Sich-erschöpft-Fühlen oder Ich-kann-nicht-mehr oder Wie-geht-es-weiter ein guter Zeitpunkt, innezuhalten und nicht weiterzuarbeiten. Nicht überarbeiten, nicht das, was schon geschehen ist, nicht erkennen. Das alles bieten die Pausen an, das Innehalten, das Erkennen, das Potenzial des Verstehens, was passiert ist. Dieses Sich-Einfühlen braucht Zeit, das Erkennen braucht Zeit. Und es braucht, dass ihr bei euch selbst bleibt.
Also, ihr habt die Disziplinübung und die Freiheit, die Formfindung, das Abwandeln, die Ideen herausarbeiten, den eigenen Blickwinkel und Standpunkt verändern. Den eigenen Standpunkt verändern könnt ihr auch in der Komposition: Wo ist das Element, das ich zeichne? Bin ich in meiner Bildgestaltung immer ähnlich oder fange ich einmal ganz anders an?
Das hilft euch in die Freiheit, in die Neuheit. Schaut, dass ihr euch viel Zeit nehmt, um gut zu euch zu kommen. Ihr kennt die Übungen, das Atmen, das Bewegen, das Gehen an sich, das aufmerksame Gehen, die Reise durch den Körper, um sich zu spüren und wahrzunehmen. Oder die Möglichkeit, ganz einfach den Stift zu nehmen, Strich für Strich oder Linie für Linie, sehr aufmerksam bei der Spitze des Bleistiftes zu bleiben und ein Blatt, das nichts will, zu schaffen. Nichts wollen, das ist das Motto. Dann kommen die Freiheit, die Lockerheit und das, was ihr sucht.
Ich wünsche euch sehr, sehr gutes Gelingen und einen guten Start auf der Suche nach neuen Möglichkeiten!