Einfach Sein

Es kann sein, dass ihr in der Zeichnung sehr unterschiedliche Arbeiten vorhabt, dass ihr sehr unterschiedliche Ideen und wunderbare Konzepte entwickelt habt. Dennoch, bei aller Unterschiedlichkeit, gibt es Gemeinsamkeiten, auf die wir uns gemeinsam einlassen: die Kriterien, was ein gutes Bild ist, was eine gute Arbeit ist. Davon gibt es ein paar wenige in der Kunst, auf die wir uns stützen können und die miteinander abgewogen immer in verschiedensten Zonen enden.

Es ist wichtig, dass wir auf ein paar Dinge achten. Beginnen wir damit, dass ihr alle von unterschiedlichen Anstrengungen im Leben begleitet seid. Ihr seid eben nicht nur auf die Kunst konzentriert, weil das gar nicht geht. Ich weiß, wie schwer es ist, wenn man von anderen Tätigkeiten begleitet ist, herausgerissen wird, und dann wieder zurückfinden soll in diese ganz andere Welt des künstlerischen Gestaltens. Deswegen rate ich euch, ein kleines Ritual anzueignen, um in diese Arbeitshaltung, in diese Konzentration hineinzufinden.

Das mag sehr unterschiedlich aussehen, aber soll euer Ritual sein. Für manche mag das ein sehr bewusster Spaziergang in der Natur sein, oder was auch immer euch einfällt. Um sich zum Zeichentisch, zur Arbeit hinzusetzen, ist dann noch eine mentale, emotionale Vorbereitung nötig. Atmet tief ein, streckt euch, bringt aus dem Körper diese Haltung heraus, die getrübt ist von der Anstrengung, von der Konzentration der Tätigkeit davor. Damit ihr sie loswerdet und sehr bewusst in die Zeichnung hineingeht. Dabei hilft auch der Arbeitsplatz, den ihr euch erarbeitet oder der schon da ist.

Er ist wie ein Anker für diese Arbeitshaltung des bildnerischen Gestaltens, um in diese Stimmung, in diese geistige Verfasstheit, hineinzukommen. Seid euch bewusst, dass das sehr wichtig ist. Und dann gibt es einen Satz, vom dem ich finde, er ist zu gut, um ihn nicht zu wiederholen: „Einfach Sein“. „Einfach Sein“ im doppelten Sinn des Wortes: „Einfach sein“ mit der Betonung auf „einfach“.

Nämlich die Dinge im Bild sehr einfach anzugehen. Ihr seid keinem Stress ausgesetzt, wahnsinnig kompliziert sein zu müssen. Sondern einfach. Die Formen einfach entwickeln, die Strukturen einfach halten, sodass ihr gut arbeiten könnt, dass ihr euch auf diesen Augenblick einlassen könnt. Und „einfach Sein“ ist das auf das Sein Bezogene, dieses Da-Sein, dieses Präsent-Sein, dieses So-wie-ich-jetzt-bin-Sein, um gut zu arbeiten. Einfach Sein ist eine so wichtige Grundhaltung. Merkt euch das. Wie gehe ich zu meiner Arbeit hin, sodass ich gut in meinen Arbeitsprozess einsteigen kann? Ich darf Einfach sein, einfach Sein.

Da sind wir schon mitten in drei wesentlichen Punkten, die ich kurz mit euch besprechen möchte, weil sie die Grundvoraussetzung sind, für all das, was sich in einem Bild abspielt. Wir fragen uns oft, was ist denn überhaupt ein Bild? Das ist, philosophisch gesehen, nach Immanuel Kant, die ontologische Fragestellung. Die Existenz, das Sein, das Werden, das ihr alle in euren Gedanken grundgelegt habt: Was mache ich denn überhaupt? Was bewegt mich, dieses Bild zu malen? Welche Themen sind mir wichtig? Was ist denn mein Bild? Das ist diese Frage nach dem Wesen, nach dem Sein.

In der weiteren Folge ist natürlich die Frage: Bin ich in meinem Bild abstrakt oder konkret, realistisch? Auf der Schiene zwischen diesen beiden extremen Polen können wir hin und her navigieren. Das hat uns die Kunstgeschichte zu Beginn des 20. Jahrhunderts aufbereitet. Nun sind wir im 23. Jahr des 21. Jahrhunderts und haben die Möglichkeiten auf dieser Schiene noch immer nicht ausreizen können.

Heute ist es möglich, vollkommen abstrakt, vollkommen realistisch, oder etwas dazwischen zu sein und sich zwischen diesen Möglichkeiten zu bewegen. Das gibt uns eine große Freiheit, wir sprechen hier von der Pluralität der Möglichkeiten im Bild. In dieser Phase steht derzeit die zeitgenössische Kunst. Wir können so viele verschiedene Möglichkeiten sehen, wie sich Künstler und Künstlerinnen auszudrücken versuchen. Also seid euch gegenwärtig, dass das die Grundfrage im Bild ist.
Die zweite Frage ist die formale Fragestellung, die Frage nach der Form, die wir in der Zeichnung entwickeln. Auch wenn wir ganz abstrakt sind, haben wir eine Form. Wenn wir zum Beispiel minimalistisch sind, haben wir die Form der äußeren Begrenzung der Leinwand oder des Papiers. Das kann rund sein, das kann eckig sein, das kann dreieckig sein. Aber sobald wir die leiseste Ahnung einer Form geben, sind wir schon in der formalen Fragestellung.

Nun ist es so, dass wir meistens verschiedene Formen verwenden und diese Formen eine Koexistenz im Bild eingehen und miteinander verwandt sein müssen. Und wie sind sie verwandt? In der Kontur! In der Kontur der Form können wir, auch wenn sie unterschiedlich sind, Blätter, Stängel, Blüten, Gesichter, Kreise, Rechtecke, Raster und so weiter erkennen. Alles spielt sich an den Rändern ab und wie wir damit in der Form umgehen. Eine gute Form zu entwickeln, heißt, genau zu schauen, wie die Form ist, wie ihr die Form aufbaut.

Im Englischen wird zwischen „form“ und „shape“ unterschieden. Im Deutschen sprechen wir von der äußeren Kontur der Form und von der inneren Entwicklung der Form, das meint dieses „form“ und „shape“. Dieser Unterschied ist sehr wesentlich. Dass wir eine Form von innen heraus entwickeln und sie uns von innen heraus in ihrer Bedeutung, in ihrem Sein, in dem, was es ausdrücken soll, gegenwärtig wird und sich damit an der Kontur manifestiert, welche Emotion die Form letztlich zum Ausdruck bringt. Das ist die formale Fragestellung.

Dann haben wir noch die Frage des Wie, die epistemologische Fragestellung im Kant’schen Sinne. Wie arbeiten wir? Wie ist die Pinselstrichführung? Wie sind unsere Linien? Wie tragen wir das Material auf? Die Frage nach dem Material ist wesentlich, weil jeder Künstler und jede Künstlerin das anders auswählt. Aber vor allem, wie sie mit dem Material umgehen, das sind die Feinheiten, die kein Künstler und keine Künstlerin verrät und die sich auch nicht so einfach kopieren lassen, weil jede Hand anders arbeitet, weil jedes Wesen der Persönlichkeit anders ist und diese Frage nach dem Wie letztlich den Stil des Künstlers oder der Künstlerin bestimmt.
Die Frage nach der Ontologie, nach dem Sein des Bildes – abstrakt oder realistisch, nach dem Werden und Vergehen dessen, was wir in das Bild hineindenken, nach dem Einfach Sein; die formale Frage, all diese Formen, die wir entwickeln; und die Frage nach dem Wie der Gestaltung, diese drei Ebenen bestimmen den Stil und die Totalität des Bildes, den Gesamteindruck des Bildes. Das alles hat miteinander zu tun.

Manchmal ist die Frage, ob abstrakt oder realistisch, stärker im Vordergrund, sodass sich dieses Bild in seiner ontologischen Fragestellung stärker hervortut. Aber dennoch gibt es da und dort eine Form, sodass auch die formale Fragestellung darin ist. Die Frage des Wie kann manchmal sehr im Vordergrund stehen, wenn das Material zum Thema wird, oder sie ist beiläufig, ganz im Hintergrund stehend. So kann jede dieser drei Ebenen einmal etwas mehr im Vordergrund stehen, aber immer spielen die anderen beiden Ebenen mit.

Die Totalität ist sehr wichtig, dass kein Detail sich hervorhebt, dass nichts das Auge ablenken kann. Wenn das aber passiert, was natürlich manchmal der Fall ist, dann müsst ihr dieses eine Element, das sehr attraktiv ist, ablenken, indem ihr andere attraktive Elemente in derselben Weise auf die Fläche streut, sodass es sich in den Rest des Bildgeschehens integriert. Auch hier ist es gut, wenn ihr euch die Formen, die ihr verwendet, vergegenwärtigt und euch vielleicht auf eine Form reduziert und diese wiederholt, als dass ihr viele verschiedene Formen anwendet. Das ist ein guter Rat. So habt ihr dann auch die strukturelle Identität des Bildes viel leichter im Griff.
Also merkt euch, dass ihr einfach seid und dass ihr einfach seid, und diese Fragestellungen, die sich damit herausstellen: die ontologische Fragestellung, die formale Fragestellung und die epistemologische Fragestellung des Bildes. Das ist mein Wunsch, dass ihr euch möglichst einfach und gut vorbereitet hinsetzt und das, was in euren Konzepten ist, in der möglichst einfachen Weise – aber in der feinsten, sensibelsten Weise – anfängt, weiterentwickelt, beobachtet.

Dass ihr eure Erkenntnisse aus dem Arbeitsprozess in die nächste Arbeit hineinführen könnt, dass möglichst viele Ideen frei werden und ihr euch ganz auf den Augenblick des Gestaltens einlässt. Ich wünsche euch eine sehr schöne Arbeitsphase!