Reduktion und Raster
Ich möchte beginnen mit dem Gedanken an ein leeres Blatt oder eine leere Leinwand. Egal, ob ihr sehr erfahren in der Malerei und Zeichnung seid oder am Beginn steht, der Moment, in dem ihr vor dem leeren Blatt oder der Leinwand steht, ist ein sehr spezieller. Eine der großen Fragen ist, wo und wie ihr beginnt. Das Wie ist noch nicht so tragisch, das werden wir später hören, aber vor allem das Wo interessiert uns. Denn bereits ein kleines Element, mit dem Pinsel oder dem Bleistift gesetzt, definiert den Raum im Blatt. Das zu verstehen, ist wunderbar und deswegen möchte ich euch zwei Anregungen dazu geben. Ihr könnt beiden folgen oder nur einer, das hängt von eurem Zeitbudget ab. Beide haben mit Reduktion zu tun, aber die erste ist die absolute Reduktionsübung.
Wenn ihr nur ein Element auf die Leinwand setzt, egal wo, entsteht ein Dialog mit dem Rest des Bildraumes. Bereits ein einziges kleines Element kann genug sein, um den gesamten Bildraum zum Sprechen zu bringen. Plötzlich ist alles fertig. Natürlich haben wir nicht vor, immer nur ein Element auf das Bild zu setzen, aber ich möchte gerne das Bewusstsein dafür mit euch teilen, dass das bereits ein innovatives und wichtiges Ereignis im bildnerischen Schaffen ist.
Die erste Übung im Sinne von Reduktion ist folgende: Ihr beobachtet eine Linie. Das kann eine Kante von einem alten Haus sein, also eine Linie aus der Architektur, die Kontur eines Baumstammes, also eine Linie aus der Natur, die Kontur eines Stängels, eines Gefäßes, was auch immer ihr beobachtet. Eine annähernd gerade, senkrechte Linie. Diese Linie setzt ihr in den Raum. Idealerweise ist die Linie beobachtet, angeregt von einem Objekt, denn es ist leichter etwas genau anzuschauen und in der Zeichnung von dem auszugehen. Diese eine Linie könnt ihr entweder mit Bleistift oder mit Kohle gestalten, sehr sensibel, sehr präzise.
Wenn ihr mit dem Bleistift arbeitet, braucht ihr eine zweite, parallele Linie, sodass sich eure Linie ein bisschen kräftiger ausmacht. Dann habt ihr einen Raum. Dafür stellt sich schon die Frage: Wie lang ist die Linie? Wo fängt sie an, wo hört sie auf? Das müsst ihr herausfühlen, das müsst ihr bestimmen. Wie lang ist die Linie im Verhältnis zum Blatt? Denn sie geht nicht von oben bis unten durch. Wenn ihr diese Fragen beantwortet und eure Linie gestaltet habt, dann streut ihr kleine Elemente auf ein Feld. Ganz kleine Elemente, als ob ihr Papierschnipsel streuen würde. Kleine Sprengsel, Kritzeln, aber mit schönen Linien. Wo dieses Feld sitzt, ist jedenfalls im Dialog mit der Linie.
Ob diese kleinen Elemente nur auf der einen Seite der Linie sind oder auch in die andere Seite hinübergehen, das müsst ihr ausprobieren. Auf jeden Fall sind diese Sprengsel größer oder kleiner und im Abstand zueinander immer unterschiedlich, das ist sehr wichtig. Das ist meine einfache Übung für euch. Ihr werdet staunen, wie viele Möglichkeiten sich daraus ergeben und was alles damit möglich ist. Diese kleine Übung könnt ihr natürlich auch in Farbe umsetzen, wenn ihr mit Farbe arbeiten wollt. Dann haben die Linie eine Farbe, die kleinen Elemente eine Farbe und der Hintergrund eine Farbe. Aber wie ihr die Hintergrundfarbe an die Linie bzw. an die Elemente heranbewegt, dort entscheidet sich die ganze Emotion. Ihr werdet das herausfinden, da bin ich mir ganz sicher.
Die zweite Übung ist der Raster. Wir haben den Raster schon öfter angesprochen, aber es ist immer wieder interessant, es mit dem Raster zu versuchen. Ich rate euch keine zu kleinformatigen Papiere für den Raster zu verwenden. Nehmt große Papiere, idealerweise 2x1Meter, die ihr auf ein Brett gebt und dann darauf arbeitet. Ein Raster ist dann gegeben, wenn ihr folgendes macht: Ihr umrandet zunächst einmal mit einer Außenlinie euer Blatt, ihr macht also einen Rahmen.
Dann zieht ihr innerhalb dieser Begrenzungslinie senkrecht von oben nach unten und von links nach rechts Linien, immer bis zu dieser Begrenzungslinie, nicht darüber hinaus. Dadurch entstehen rechteckige oder quadratische Felder. Je nachdem, wie ihr diese Linien zueinander sprechen lässt, ob weiter auseinander oder näher zusammen, so entstehen, ohne dass ihr das groß vorher planen könnt, Felder, die größer oder kleiner sind und die ein Gespräch miteinander eingehen.
Ihr könnt versuchen ganz gleichmäßig große Felder zu machen, bei denen die Abstände immer gleich sind, ihr könnt sie rechteckig machen, ihr könnt sie quadratisch machen, ihr könnt sie in einem feinen Karo gestalten, wie ein kariertes Blatt Papier. Entscheidend ist immer die Qualität der Linie. Am besten ist es, mit Kohle zu arbeiten. In einem nächsten Schritt könnt ihr die Abstände verändern. Große Abstände, kleine Abstände. Und durcharbeiten. Dann könnt ihr als dritten Schritt in manchen Feldern eine Farbe einführen. Idealerweise Rot, aber ihr könnt auch alle anderen Farben wählen. Ihr könnt mit Rot beginnen und dann mit Ocker ergänzen. Rot, Ocker und Schwarz, das sind eure Grundfarben. Aber zunächst einmal nur Rot.
Wenn also die Verteilung dieser Flächen gelungen ist, dann schließt ihr daraus, dass ihr eine andere Möglichkeit habt. Beim nächsten Blatt, auf dem wieder ein Raster ist, schreibt ihr Ziffern hinein, und zwar die eures Geburtsdatums, aber nicht zusammenhängend. Zuerst einmal die Ziffern für das Geburtsjahr, also jedenfalls Einser und Neuner, oder Zweier und Nuller, und dann die Ziffern für das Monat und den Tag, was weiß ich, den Fünfer, den Sechser, den Dreier, den Siebener.
Diese Ziffern streut ihr, sie können ganz klein sein, aber ihr müsst aufpassen, die Ziffer muss das ganze Kästchen ausfüllen. So entsteht ein Dialog mit euren Ziffern, das ist sehr spannend. Dann macht ihr ein weiteres Blatt mit sehr unregelmäßigen, unterschiedlich großen Feldern und schreibt euren Namen, aber auch nicht zusammenhängend, sondern die Buchstaben eures Namens. Groß und klein. Das gleiche könnt ihr mit dem Titel eurer Arbeit versuchen. Ihr könnt die Buchstaben setzen, ohne dass sie dann noch lesbar sind. Ihr könnt mit diesem Raster spielen und in der weiteren Folge natürlich auch mit den Farben, indem ihr Farbe und Buchstaben oder Farbe und Ziffern miteinander kombiniert.
Das sind aufbauende Schritte, um den Bildraum zu definieren, aber immer im Verhältnis des Rasters. Wer sich diesen Rasterideen anschließt oder auch der einfachen Methode des minimalistischen Zeichnens in Farbe oder in Grafik wie in der ersten Übung, verfolgt bis zum äußersten das Prinzip der Reduktion: mit den geringstmöglichen Mitteln, den größten Ausdruck zu erreichen.
Das ist der Rahmen, in dem ihr euch gut bewegen könnt. Denn später, um zur ersten Übung zurückzukommen, könnten die Schnipsel ein Vogelschwarm sein, eine Blütenwiese, eine Ansammlung von Menschen, die ihr von hoch oben seht, oder eine Ansammlung von Häusern. Also ihr könnt diese Ansammlung von Schnipseln, die ihr zuerst nur abstrakt auf das Bild setzt, in eine Bedeutung setzen, in eine erkennbare Form. Aber das ist jetzt noch nicht der Fall. Jetzt seid ihr mit dieser Übung ganz abstrakt. Genauso ist die Rasterübung eine ganz abstrakte, wo sich aber die Ziffern und auch die Buchstaben und farbige Flächen hineininvolvieren.
Mit dem Raster könnt ihr auch noch anders spielen. Ihr habt eure Rasterlinie aus Kohle und könntet die Flächen des Rasters auch mit Kohle ausfüllen und dabei sehr feine weiße Linien freilassen. So entstehen viele weiße Linien, nämlich auf der einen Seite der schwarzen Linie und auf der anderen Seite der Rasterlinie und ihr könnt den ganzen Raster voll mit diesen schwarzen Kästchen machen. Das ist ein ganz, ganz schönes Ergebnis. Ihr werdet viele Glücksmomente haben.
Wie geht ihr mit den Kohlearbeiten um? Kauft euch ein billiges Haarspray, denn für große Flächen braucht ihr relativ viel Fixativ. Haarspray genügt vollkommen, die Kohle braucht kein teures Fixativ. Geht auf den Balkon oder in den Garten, möglichst wenn kein Wind ist, und fixiert mehrere Male die Linien und Flächen. Nicht zu viel Spray auf einmal, sondern lieber öfter trocknen lassen und wieder sprühen, so lange, bis keine Kohle mehr am Finger bleibt, wenn ihr über die Zeichnung fährt.
Genießt dieses Reduzieren, dieses Einfach Sein, dieses Einfach-einmal-eure-Möglichkeiten-Probieren. Ihr alle habt andere Ideen, andere Möglichkeiten im Hinterkopf. Ihr könnt versuchen, eure eigenen Ideen mit dieser einfachen Übung weiterzuspinnen. Lasst euch auf das Spielerische ein, lasst euch auf neue Möglichkeiten ein und übt einfach die Grundübungen, die euch sehr viel Grundgerüst für alles weitere geben, was auch immer ihr im Bildnerischen dann tut.
Ich wünsche euch damit eine sehr schöne Zeit!