Punkt in Bewegung
Es gibt in unserem Alltag alle Arten von zufälligen Spuren zu beobachten, zum Beispiel auf dem Straßenbelag, auf Wirtshaustischen, auf einem Feld. Wir können Vieles zu einer Zeichnung erklären. Genauso wie zum Beispiel die Kondensstreifen am Himmel Linien sind. Diese Zeichnungen besitzen gegenüber den absichtsvoll, von versierter Hand entworfenen Linien eine große Unmittelbarkeit und Echtheit, weil sie so unbekümmert schön sind. Weil keine Absicht, keine gestalterische Absicht zugrunde liegt. Wenn wir diese zufälligen, organisch entstandenen Strukturen und Formen wahrnehmen, ist das eine große Inspirationsquelle für viele Zeichnerinnen und Zeichner. Auch die Frage nach Absicht und Beliebigkeit wird dabei gestellt. Diese Ausweitung des Zeichenbegriffes macht es nicht einfacher. Denn: Was ist eine gute Zeichnung? Was dürfen wir als gute Zeichnung benennen? Und so möchte ich euch heute zu einem Spiel einladen. Paul Klee hat etwas sehr Schönes über das Zeichnen gesagt: „Die Linie ist ein Punkt, der spazieren geht.“
Das ist eine sehr schöne Anknüpfung an das, was ich vorher gesagt habe, denn diese Formulierung zeigt, wie zweckfrei und leicht das Zeichnen dabei bleibt. Man sieht einen Punkt ganz unbedarft und heiter, zum Beispiel vom Flussufer über Feldränder zwischen Hummeln und Sonnenstrahlen umherwandern, oder einen Schneeball, den man zu bilden beginnt und dann im Schnee weiterrollt, sodass sich eine Linie bildet. Der Schneeball, der Punkt, wird größer und zugleich bildet sich eine Linie. So können wir Spaziergänge mit dem Punkt und mit der Linie unternehmen. Es gibt aber nicht nur sanfte Spaziergänge.
Manchmal sind sie hastig und stolpernd und wir irren umher, oder es zieht Regen oder Sturm oder Schnee auf und wir laufen und sind viel zu früh erschöpft. Viele dieser Spuren verlieren sich dann auch wieder, weil sie weggeregnet oder zugeschneit werden, aber einige erzählen von sehr aufregenden Momenten. Die mentale Energie findet zu einer überraschenden und spannenden Form.
Worauf will ich hinaus? Ich möchte gerne, dass ihr auf eurem Blatt Papier einen Punkt markiert, und ihr könnt durchaus einmal versuchen, mit einem Kugelschreiber zu arbeiten. Ihr setzt den Kugelschreiber auf dem Blatt an und fahrt damit ein bisschen herum, um diesen Punkt zunächst von Klein nach Groß zu machen, einen deckenden Punkt.
Durch dieses Kritzeln des Punktes werdet ihr größer und größer. Ihr zieht also Schlaufen, die aus dem Punkt in die Umgebung herauslaufen und kritzelt den Punkt weiter, ohne ihn ganz dicht zu machen. Ihr kritzelt aus dem Punkt heraus, als ob sich der Punkt in Bewegung setzen würde. Das ist durchaus groß zu denken. Der Punkt beginnt klein, aber letztendlich ist dieses Ausfahren und Nie-Absetzen eine sehr schöne, große Bewegung, die der Punkt über die Linien machen kann.
Dann habe ich eine zweite Idee für euch: Ihr richtet euch ein Schälchen, in das ihr Tusche oder Tinte oder eine andere flüssige Farbe hineingebt, und nehmt eine Kugel – vielleicht eine Holzkugel oder eine Glaskugel – und taucht sie in das Schälchen ein. Nehmt ein neues Blatt Papier und wenn die Kugel eingetaucht ist, lasst ihr sie über euer Blatt rollen. Einfach rollen. Es ist ein bisschen ein Experiment.
Ihr könnt stattdessen auch auf dem Blatt Papier selbst Farbe auftragen. Zum Beispiel in der Mitte des Blattes, ein dicker Streifen mit relativ viel Farbe, die noch nass ist. Dann lasst ihr die Kugel einfach drüber rollen, einmal nach oben, dann nach unten, oder von links nach rechts, je nachdem, wie euer Blatt liegt. Ihr werdet merken, dass diese Kugel die Farbe aufnimmt und auf dem unberührten Weiß Spuren hinterlässt, die sehr schöne Linien erzeugen.
Ihr bemüht also den Zufall mit dieser Kugel, weil ihr sie nicht steuern könnt, wie sie durch das Feld rollt. Damit spielt ihr. Bis das ganze Blatt vollgerollt ist mit den Zufällen der Kugel. Wenn die Farbe auf dem Streifen, wo die Kugel eigentlich Farbe aufnehmen sollte, trocken ist, gebt ihr einfach noch einmal Farbe darauf und die Kugel rollt weiter.
Es kann auch eine gute Idee sein, ein Malerband aufzukleben, das sich restlos herunterziehen lässt, ohne das Papier zu zerstören. Auf diesem Malerband tragt ihr Farbe auf, sodass es feucht ist, und lässt die Kugel dort drüber laufen, die dann auf dem Papier die Linien zeichnet, nach oben, nach unten. Wenn es trocken ist, zieht ihr das Malerband ab und habt so einen weißen Streifen und viele zufällige, schöne Linien.
Als dritte Spielerei und drittes Experiment, bei dem ihr den Punkt in Bewegung bringt, versucht ihr Folgendes: Ihr könnt euren Stift auch als Kreisel begreifen. Vielleicht fällt euch etwas ein, wie ihr euren Stift beschweren könnt. Zum Beispiel könnt ihr eine Mutter darüber stecken, sodass er schwerer wird. Natürlich müsst ihr den Stift oben mit einem Faden oder Wolle festbinden.
Diesen Stift – am besten wäre ein Filzstift, weil der gut Farbe abgibt – lasst ihr wie einen Kreisel über dem Papier tanzen, bis er das Papier berührt. Dann bewegt ihr eure Hand rund und versucht Kreise oder einen Punkt zu machen. Durch diesen Schwung vom Filzstift entstehen runde Linien, weil ihr euren Stift wie ein Pendel bewegt. Den ihr aber nicht kontrollieren könnt, weil er ja an einem Faden hängt. Ihr berührt das Blatt Papier, ohne dass ihr zu viel Einfluss auf das Aufdrücken habt, sondern einfach aus dieser runden Bewegung heraus Punkte entstehen, die wie Rundungen sind, die ihr kleiner ziehen könnt, die ihr größer ziehen könnt, die manchmal nur punkthaft aufkommen, aber die ihre Spur über das Blatt ziehen. Mit kleineren und größeren runden Bewegungen rotiert der Stift wie ein Kreisel und hinterlässt damit eine Bewegung auf dem Papier.
Dieser Punkt in Bewegung hat also – aus meiner Fantasie – drei Möglichkeiten: Vom Punkt aus kritzeln und über den Punkt hinaus kritzeln. Eine Kugel, die ja ein dreidimensionaler Punkt wäre, durch feuchte Farbe und dann ins Blatt hinein rollen lassen, damit Linien entstehen, und das möglichst oft und gut verteilt, überall. Oder einen Filzstift oder den Bleistift oder auch einen Kugelschreiber – ihr werdet eure Erfahrungen einsammeln – wie ein Pendel kreisen lassen und dabei herausfinden, wie das geht: Indem ihr einen Faden anbindet, indem ihr den Stift ein bisschen beschwert, und dann kreiselförmig, kreisend mit dem Handgelenk diesen Stift über das Blatt bewegt und aus dem Punkt eine Bewegung zieht. Das ist heute eine spielerische Aufgabe: Der Punkt in Bewegung. Ich wünsche euch gutes Gelingen und eine schöne Woche!