Die Schachtel
Wenn wir eine Naturstudie sehr genau verfolgen, kommen wir entweder in einen Flow und möchten gerne mehr Naturstudien machen und gar nicht mehr aufhören, oder wir haben das Gefühl, es braucht eine Pause. Diese Pause würde sich sehr gut eignen, sich der Geometrie zuzuwenden.
Der prinzipielle Stand der Zeichnung in der zeitgenössischen Kunst gewinnt immer mehr an Bedeutung. Ich sehe, dass es nicht nur international viele Ausstellungen zum Thema Zeichnung gibt, sondern es mittlerweile sogar Kunstmessen gibt, auf denen das Thema Zeichnen ein Schwerpunkt ist. In Berlin heißt so eine Messe „Paper Positions“, auf der auch der „Paper Art Award“ vergeben wird. „Paper Art“, das meint eben Zeichnung auf Papieren, also das Thema Papier gewinnt zunehmend an Bedeutung. In diesem Impuls möchte ich das Wort Papier im doppelten Sinn in der Zeichnung thematisieren, im Zusammenhang mit Geometrie.
Manche von euch sind vielleicht Raucher:innen, die also immer eine Zigarettenschachtel bei sich haben. Manche haben keine Zigarettenschachtel bei sich, aber kennen vielleicht jemanden, der eine hat. Ansonsten geht auch jede andere kleine Schachtel. Zum Beispiel, wenn ihr ein Paket bei der Post aufgebt, könnt ihr solche Paketvorrichtungen noch aufgefaltet erwerben und sie dann zusammenfalten und zu einer Schachtel fabrizieren, sodass alles fertig vorbereitet ist, um sie abzuschicken mit der Post.
Ihr habt also viele Möglichkeiten, zu einer Schachtel im weitesten Sinne zu kommen. Ausgehend von der Idee der Zigarettenschachtel kann man zeichnerisch vieles damit tun. Zum einen ist die Zigarettenschachtel außen bedruckt. Welche Sorte, welche Marke, oder auch wie gefährlich Rauchen ist, das alles steht auf der Schachtel. Wenn wir die Zigarettenschachtel entfalten, können wir den Grundriss so einer Schachtel sehen.
Das geht ganz gut, vielleicht müsst ihr dort, wo es geklebt ist, die Seiten vorsichtig mit dem Messer lösen. Wenn ihr den Grundriss betrachtet, werdet ihr feststellen, dass jede Fläche zweimal vorhanden ist. Wenn es eine rechteckige Grundform ist, ist die größte Fläche vorne und hinten, Länge mal Breite. Die Seitenflächen, Höhe mal Breite. Oben und unten, Länge mal Höhe. Und dann gibt es noch die gefalzten Flächen, die sich überlagern und wo die Schachtel geklebt ist.
Also schaut euch den Grundriss einer aufgefalteten Schachtel sehr genau an. Ihr studiert die Schachtel, die vor euch liegt, zuerst in der Aufsicht und dann in der seitlichen Perspektive, bevor ihr die Schachtel zerlegt, sodass euch der Grundriss, die gesamte aufgefaltete Schachtel vor Augen liegt. Studiert diese Fläche ganz genau, fast so wie seinerzeit in der Schule. Der Unterschied ist, dass wir in der Zeichnung natürlich die feinen Linien haben. Die Linien schwingen. Das ist der eine Zugang zum Papier, zu dieser Schachtel aus Papier.
Der zweite ist, dass die aufgefaltete Schachtel, bei der das Innere sichtbar wird, dort ja nicht bedruckt ist und damit potenziell auch ein Bildträger ist. Das heißt, ihr könnt letztlich auch die aufgefaltete Fläche dieser Schachtel bildnerisch gestalten, indem ihr sehr behutsam auf die vorhandene Fläche eingeht.
Was immer ihr, es gibt ja viele Themen, ihr könnt es mit ganz unterschiedlichen Gedanken füllen. Das überlasse ich euch. Zum einen ist die Grundfläche schon die einer Geometrie, ihr könnt also geometrisch arbeiten. Ihr könnt mit vitalen Linien weiterarbeiten, ihr habt Hell und Dunkel, Groß und Klein. Ihr könnt eine Landschaft daraus machen, ihr könnt Tiere darauf zeichnen, Blumen, oder auch Strukturen oder Muster, die ihr erst entwickelt. Was immer euch einfällt.
Viele Künstler waren zu Beginn des 20. Jahrhundert sehr arm. Besonders habe ich das in der amerikanischen Kunst gesehen. Vor allem die afroamerikanischen Künstler waren angewiesen auf das, was sie finden. Zum Beispiel haben sie Zigarettenschachteln auf der Straße gefunden, die die anderen weggeworfen haben. Die haben sie aufgefaltet und als Bildträger verwendet, mit auf der Straße gefundenen Kohlestückchen. Das sind sehr berührende, wunderbare Zeichnungen, die ich beispielsweise im Whitney Museum in New York gesehen habe.
All diese Möglichkeiten habt ihr, wenn ihr euch in etwas so Simples und scheinbar Alltägliches vertieft. Für die, die rauchen, ist es etwas Alltägliches, und für die, die nicht rauchen, ist es auch als neutrale Schachtel zu sehen. Die ganzen Warnungen betreffen das Rauchen, nicht die Schachtel. Habt Spaß, eine Schachtel genau zu studieren; in ihren Oberflächen, in dem, dass ihr sie perspektivisch, von verschiedenen Seiten und aufgefaltet seht; und dann, dass sich die aufgefaltete Kartonfläche selbst in einen Bildträger transformieren kann. Ich wünsche euch dabei viel Spaß und vor allem einen spielerischen Zugang.