Die Verzerrung

Ich möchte euch wieder ein neues Experiment vorschlagen. Das Fachwort dafür heißt Linienchromatismus. Das ist nichts anderes, als wenn ihr zum Beispiel Linien von einem Baumstamm anschaut, die ähnlich verlaufen und sich doch verändern. Eine Holzmaserung ist wie das Echo einer Linie, die sich immer wieder leicht verändert. Auch bei Felsen kann das zu beobachten sein oder auch, wenn man Bewegung in einem flüssigen Medium darstellen möchte. Für diesen Impuls schlage ich euch vor, eure persönlichen Jahresringe zu versuchen.

Wie geht das? Ihr beginnt mit dem Profil eines Kopfes. Ihr könnt euch selbst porträtieren, wenn ihr wollt, aber es kann auch eine schematische Darstellung sein. Jedenfalls ein Gesicht von der Seite, sodass man die Stirn sieht, hinunter zur Nase, dann der Bereich über der Lippe, die Lippen, unter der Lippe, das Kinn und der Halsansatz.
Keine Haare und andere Details. Vorerst auch kein Auge. Dann beginnt ihr auf einer Seite, zum Beispiel auf der linken Seite des Blattes, und zieht die erste Linie, das erste Profil. Die zweite Linie von diesem Profil ist schon leicht anders. Die Linie der Stirn ist vielleicht nicht mehr so steil, ist vielleicht schon etwas schräger.

Das geht so weiter, lasst vielleicht 3 bis 4 cm Abstand zur nächsten Linie. Die nächste Linie schwindet wiederum etwas mehr, sodass die Stirn schon etwas mehr flieht. Bei der vierten Linie verändert sich dann auch die Nase, und dann der Mund, und dann das Kinn. Die Linie verändert sich immer mehr, bis ihr am rechten Rand ankommt, wo die Nase schon fast verschwunden ist und der Mund sich verzieht, und ihr eine fliehende Stirn habt, und ganz zum Schluss ein Auge.

Versucht diesen Linienchromatismus. Das lässt sich auch mit dem Wort Verzerrung beschreiben. Diese Linie verzerrt sich immer mehr. Ihr wiederholt sie, aber dabei beginnt sie sich mehr und mehr zu verzerren. Wie Jahresringe der Menschheit, oder eure eigenen. Die harmonische Anmut, die diese Linien erhalten, die ein Mensch mit dem Alter bekommt, beruht auf diesem Formenchromatismus, auf diesen sich immer wieder wiederholenden Linien mit leichter Veränderung, mit einer Verzerrung.
Das könnt ihr sogar so weit betonen, dass ihr die Kontur, die ihr von diesem Profil zeichnet, mit einer Aura verseht. Ihr wisst schon, wie eine Aura entsteht: Durch kleine Pünktchen oder kleinen Strichelchen entlang der Linie, die etwas Räumliches hinzufügen. Das kann als Versuch sein, es muss nicht sein.

Ihr könnt natürlich auch die Bewegung einer Steinschicht oder eines Baumstammes anschauen und die Verzerrung dieser Linien, die irgendwie immer die gleichen sind, aber irgendwie doch nicht, studieren. Oder ihr wählt eben das Profil eines Menschen, bei dem letztendlich ein ganz lustiges Gesicht entsteht, allein durch diese Veränderung, die leichte Veränderung jeder einzelnen Linie.

Ihr könnt es auch mit einer harmlosen Vase, mit vielen verschiedenen Formen ausprobieren, deren Kontur ihr abnehmt, wiederholt und leicht verändert, bis eine neue Formung entsteht, indem die ursprüngliche Form bzw. die Linie, die diese Form andeutet, eine Veränderung erfährt.

Ich wünsche euch eine lustige Versuchsreihe mit diesen chromatischen Verzerrungen einer Konturlinie oder eines rhythmischen Liniengeflechtes eines Baumstamms oder eines Felsens. Ich glaube, dass ihr sehr kreativ sein werdet, wenn ihr diese Wiederholung versucht und durch leichte Veränderung in die Verzerrung hineintreibt. Also der Titel unseres Impulses ist heute die Verzerrung. Ich wünsche euch sehr viel Vergnügen!