Striche in der Natur – blühende Haselnuss
Wir sind wieder beim Thema Raum, das aus vielerlei Hinsicht unerschöpflich ist. Etwas, das das Zeichnen für manche von euch vielleicht so schwierig, aber gleichzeitig auch so interessant macht, ist, dass alles, was wir anschauen, jedes Objekt dreidimensional ist, die Zeichnung aber nur zweidimensional, was eine große Herausforderung ist. Es gibt diese dritte Dimension im Zeichnen nicht. Und genau um diese Dimension möchte ich mit euch ringen und darüber reden. Egal ob wir einen Sessel oder Stuhl anschauen, einen Tisch, ein Glas oder einen Becher, oder ob wir in die Natur gehen, ganz egal, wir haben immer das Dreidimensionale.
In der Natur ist im Frühjahr beziehungsweise im Bergfrühjahr ein zauberhaftes Phänomen zu beobachten, nämlich die austreibenden Haselnusssträucher, die so kleine, längliche, gelbe Würstchen haben, die eigentlich schon die Blüten sind. Wenn nicht gerade der Sturm weht und die Zweige mehr waagrecht als senkrecht sind, so haben wir bei einer gewissen Distanz bei einem Blick auf dieses Gewächs das Gefühl, dass es sich um Striche handelt. Kleine, gelbe Striche in einer bestimmten Verteilung auf einem Strauch oder nahezu Baum.
Ich möchte euch animieren, euch so etwas anzuschauen oder auch ein Foto von eurem Spaziergang mitzunehmen und dann nichts anderes tun, als diese Striche zu verteilen. Ein Strich ist kurz und gerade, nichts anderes. Er kann nicht gebogen oder geformt sein. Ich möchte also keine Naturstudie, bei der ihr ganz genau studiert. Das könnt ihr auch machen, aber mein Anliegen zum Thema Raum ist ein einfacheres.
Nämlich, dass ihr erstens diese Striche in ihrer Verteilung begreift und zweitens sie so moduliert, dass sie mal heller, mal dunkler sind, ohne dicker oder dünner zu werden, sodass nur durch diese Hell-Dunkel-Variation in der Verteilung der Striche ein Raum entsteht. Dieser Raum ist eben nur durch die Striche definiert. Ihr versucht also keine vitalen Linien mit Zweigen und Ästen und Stämmen, sondern nur die Verteilung dieser Striche am Blatt. Und jetzt kommt’s: Wie dicht sie sind oder wie locker, wird euch einerseits der Strauch, den ihr beobachtet, als Inspirationsquelle vorgeben, aber natürlich bestimmt letztlich das Geschehen am Blatt, wie weit ihr euch mit Dicht oder Nicht-Dicht vorwagt, ihr selbst.
Ihr könnt auch versuchen, einen anderen Stift zu verwenden, zum Beispiel Ölkreiden oder Kohle. Oder Tusche in verschiedenen Sättigungsvarianten, also wässrig bis weniger wässrig bis frisch aus der Flasche, und die Striche mit einer Rohrfeder auftragen. Ihr könnt die unterschiedlichen Methoden auf jeweils einem eigenen Blatt ausprobieren.
Auf einem mit Kohle, auf einem mit Ölkreide und auf einem anderen mit Rohrfeder und Tusche, und dann vielleicht eine Bleistiftarbeit, sodass ihr die Unterschiede im Ausdruck seht. So habt ihr plötzlich vier verschiedene Blätter, nur mit diesen Strichen in ihrer wunderbaren Verteilung, aber mit unterschiedlichem Material gearbeitet, und es entstehen vollkommen andere Situationen.
Diese Erfahrung möchte ich euch gerne mitgeben, nehmt euch dafür Zeit und geht in die Natur. Wenn ihr gar nicht hinauskönnt oder es lieber wollt, geht ins Internet und findet eine blühende Haselnussstaude und studiert sie genau. Wenn ihr hinaus geht und vielleicht sogar eine kleine Bank oder einen Baumstamm findet, auf dem ihr sitzen könnt, dann genießt die Wärme der Sonnenstrahlen und das zarte Gelb dieser noch ganz jungen ersten Blüten am Haselnussstrauch.
Spürt euch und vor allem fühlt euch gut ein in diese ganz, ganz einfachen geraden Linien der Natur, die wir so schön beobachten können.
Ich wünsche euch sehr gutes Gelingen!